PANERAI | INDUSTRIE 4.0

Die Froschmänner-Uhr schaut in die Zukunft


Die Marke mit italienischen Wurzeln und Schweizer Sinn für Uhrenmechanik setzt in ihrer Manufaktur in Neuenburg stark auf ein Industrie-4.0-Mindset. Doch was heisst das in der Praxis? Wir haben hingeschaut


Pierre-André Schmitt

Analoger geht es fast nicht: Die grosse Planungstafel mitten in der Panerai-Manufaktur in Neuenburg sieht aus, als wäre sie im Kinderzimmer geboren worden – alles ist aus Lego gefertigt. Auf genoppten grauen Legoplatten, sie stellen die Wochen des Jahres dar, sind waagrecht grüne, gelbe und blaue Legosteine oder -balken angebracht, die für verschiedene Projekte stehen. In einer Spalte links sind die Mitarbeiter als lustige Comic-Legofiguren senkrecht untereinander aufgeführt, man sieht auf einen Blick, wer was wann zu tun hat. Eine Excel-Tabelle täte das natürlich auch, witziger oder gar übersichtlicher indes wäre sie nicht.

Wer allerdings aus diesem Beispiel schlussfolgern würde, man sei bei Panerai etwas digitalophob, ist schwer auf dem Holzweg: Das Gegenteil ist der Fall. Panerai hat sich klar dem Mindset Industrie 4.0 verschrieben, hier kann man heute sehen, wie demnächst wohl auch anderswo eine moderne Uhrenmanufaktur aussehen wird.


Zunächst aber ein Wort zur geografischen Organisation der Marke mit italienischen Wurzeln. Heimatort von Officine Panerai ist Florenz; an der Piazza di San Giovanni gleich beim Dom hat sie nach wie vor ihren grossen Flagship Store. In Italien sind auch die

Kreativteams der Marke daheim, rund 70 Leute arbeiten dafür in Mailand. 150 Boutiquen hat man weltweit, aber das vielleicht grösste Plus sind leidenschaftliche Fans, wie sie nur wenige Marken haben: Rund 30’000 Leute zählen als «Paneristi» zur Community. Sie sind gleichzeitig Kunden und beste zweibeinige Werbesäulen.

250 Menschen arbeiten hier

In der Schweiz sind das uhrmacherische Savoir-faire und die Produktion konzentriert, und ein paar wenige Zahlen verdeutlichen rasch, wie modern die Manufaktur an der Neuenburger Route de Pierre-à-Bot aufgestellt ist: 250 Menschen aus 20 Ländern arbeiten hier, die flache Hierarchie ist auf ganze drei Stufen reduziert, das Durchschnittsalter liegt bei 40 Jahren. Dass das 2014 gebaute Gebäude energetisch autonom ist, verstehe sich von selbst, meint man bei Panerai. Die meisten Werke werden hier gebaut, als Alternative gibt es mechanische Kaliber von ValFleurier.

Industrie 4.0 heisst das Schlüsselwort, wie Chief Operation Officer Jérôme Cavadini erklärt, gemeint sind Deliver on time als striktes Gebot, viel künstliche Intelligenz, 15 computergesteuerte CNC-Maschinen, fast kein Papierverbrauch und vor allem ein konsequentes Management unzähliger Daten, die während des Produktionsprozesses und auch danach für jede einzelne Uhr und jedes einzelne Teil erhoben werden.

Herzstück dabei ist ein klitzekleines Plättchen, ein NFC-Chip. Vom ersten Schritt an, der Fertigung der Grundplatine in Fräsmaschinen, begleitet der Chip die Geburt der Uhr. Jeder noch so kleine Schritt, jedes eingesetzte Werkzeug, jeder Prozess bei der Fertigung des Kalibers wird dabei erfasst und gespeichert. Und das Gleiche passiert mit Gehäuse und anderen Bauteilen. Am Schluss hat die Manufaktur eine lückenlose Dokumentation, die beim Auftreten eines Problems konsultiert werden kann. Damit könne sehr viel Zeit gewonnen werden, sagt Jérôme Cavadini. 

Mit «Swiss intelligence»

Zum Beispiel bei den Chronometrie-Prüfungen, für die eine eigene Maschine eingesetzt wird. Als Basis dient etwas zugekaufte Technologie, mit viel eigener «Swiss Intelligence» aufgepeppt. Besteht ein Werk die Chronometrie-Anforderungen nicht, gibt der Chip mit seinen Daten Aufschluss über die mögliche Ursache. Was dann wieder korrigierende Auswirkungen auf den Produktionsprozess haben kann. Und am Ende des Tages auch ermöglicht hat, die Garantie für Panerai-Uhren auf acht Jahre zu verlängern (siehe Artikel auf Seite 9). Nebenbei: Die Marke lässt ihre Uhren nicht von der Contrôle Officiel Suisse des Chronomètres (COSC) zertifizieren. Diese prüft nämlich die Uhrwerke vor dem Einbau in eine Uhr, der Kunde aber, so tönt es bei Panerai, kaufe die Uhr und nicht nur das Werk. 

Wichtige Daten kommen übrigens aus dem After-Sales-Service überall auf der Welt. Muss eine Uhr in den Service oder zur Reparatur, werden automatisch alle Daten dazu aufgezeichnet. In Neuenburg sind sie – zusammen mit den ohnehin vorhandenen Daten – eines der wertvollsten Instrumente für technische Verbesserungen. Denn Alterungssimulationen sind zweifellos wertvoll, die praktische Erprobung aber ist das wirklich Wahre.

Officine Panerai, 1860 gegründet, war 1997 zur Vendôme-Gruppe und mithin zu Richemont gekommen. Dem ersten CEO, Angelo Bonati, war gleich zum Start ein erfolgreicher Coup gelungen. Er liess alte 16-Linien-Handaufzugswerke mit der Kalibernummer 618 auffrischen – sie hatten noch den Rolex-Schriftzug eingraviert – und verkaufte davon 60 Stück für 20’000 Franken. Sammler rissen sich darum. Die Kaliber waren sozusagen aus Zufall im Fundus der Marke aufgespürt worden, sie entpuppten sich als Glücksfall, wie Bonati gerne erzählte: Die Richemont-Gruppe, die Panerai eben für rund eine Million Euro gekauft hatte, spielte allein mit diesem Geschäft den Kaufpreis wieder ein. Besser konnte man nicht starten.

Reiten auf dem Torpedo

Ebenso legendär sind die Uhren, die seinerzeit für die italienische Marine gebaut wurden. Für Kämpfer der Elite-Froschmännerformation im Zweiten Weltkrieg, sie hiessen Incursori, lieferte Panerai Uhren, welche sozusagen die Blaupause für spätere Modelle waren. Die Incursori, so muss man wissen, ritten buchstäblich auf einem Taschenunterseeboot, das als eine Art Torpedo von einem U-Boot aus abgefeuert wurde. Sie mussten das Unterwassergeschoss lenken und jeweils vor dem Treffen des Ziels in letzter Sekunde abspringen. 

Für eine optimale Lesbarkeit war das Zifferblatt ihrer Uhr zweilagig gebaut. Das untere Blatt wurde vollständig mit radiumaktiviertem Leuchtstoff bedeckt, auf dem oberen waren Ziffern und Indexe herausgefräst – die «Radiomir» war geboren. Man kann davon ausgehen, dass die Uhr unter Wasser bestens funktionierte, auf jeden Fall war das Timing bei den Kommandoaktionen entscheidend, und 1941 zum Beispiel sollen sechs Incursori erfolgreich vier britische Schiffe versenkt haben.

Von solch martialischen Übungen ist man in Neuenburg heute natürlich weit entfernt. Modernste Technologie ist aber unter der Führung von Jean-Marc Pontroué klar zum Leitmotiv der Marke erhoben worden. Das «Laboratorio di idee», wie sich Panerai gerne nennt, setzt vor allem beim Gehäuse auf modernste Materialien, derweil das unverwechselbare Sandwich-Zifferblatt erhalten bleibt.

Chaotische Struktur

Beispiel Panerai Submersible BMG-Tech: Das 47-Millimeter-Gehäuse dieses aktuellen Modells besteht aus Materialien, auf die man in Neuenburg besonders stolz ist. BMT-Tech steht für ein metallisches Glas, das aus einer glasähnlichen Legierung gefertigt wird. Ein spezieller Prozess verhindert dabei die Kristallisation des Materials. 

Das Verfahren ist aufwendig: Die aus Zirkonium, Kupfer, Aluminium, Titan und Nickel bestehende Legierung durchläuft ein Hochdruckeinspritzverfahren bei hoher Temperatur und wird dann innert Sekunden abgekühlt. So haben die Atome nicht genügend Zeit, sich in einer geordneten, regelmässigen Struktur anzuordnen, wie das bei Kristallen normalerweise der Fall ist; sie verharren sozusagen in einer chaotischen Struktur. Vorteil, so Panerai, sind höhere Stabilität, bessere Korrosionsbeständigkeit, Stossfestigkeit und Widerstandskraft gegen Magnetfelder. 

Die Lünette der Uhr ist aus Carbotech, einem Material, auf das die Marke ebenfalls stark setzt. Beispiel dafür wäre die neue Panerai Luminor Marina Carbotech im 44-Millimeter-Gehäuse. Auch Carbotech ist ein moderner Hightech-Stoff, er besteht aus übereinanderliegenden Karbonfaserscheiben, die wechselseitig ausgerichtet und dann bei kontrollierter Temperatur unter hohem Druck zusammengepresst werden.

An weiteren alchemistisch anmutenden und derzeit noch geheimen Stoffen wird eifrig gepröbelt, an gewissen Tischen der Manufaktur herrscht deshalb striktes Fotografierverbot. Aber die lustige Wand mit dem Lego-Projektmanagement lässt keine Fragen offen: Demnächst kommt ein neuer Panerai-Stoff auf den Markt. |


 

Aus Watch Around N° 46
März/April 2020

 
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