HERMÈS | MONTRES SINGULIÈRES

Das kosmische Spektakel


Man kann auf den Uhren des Traditionshauses auch die Zeit ablesen. Doch Kreativ- und Entwicklungsdirektor Philippe Delhotal hat damit viel mehr im Sinn.

Pierre-André Schmitt

Als im letzten November die Mondphasen-Uhr von Hermès am Genfer Grand Prix d’Horlogerie ausgezeichnet wurde, freute sich ein Mann ganz besonders darüber: Philippe Delhotal, Direktor Kreation und Entwicklung, konnte den Applaus, der im Théâtre du Léman dafür aufbrandete, durchaus als Bestätigung für seine jahrelange Arbeit an einem höchst ungewöhnlichen Uhrenkonzept verstehen. Und für diejenige aller Uhrenteams der Marke.

Ausgezeichnet wurde nämlich eine Uhr, die letztlich den Höhepunkt einer ganzen Reihe von aussergewöhnlich spielerischen Uhrenkomplikationen darstellt. Und die eine eigene Philosophie verfolgt. «Letztlich ist unser Ziel vor allem», so Delhotal, «dass man die Zeit nicht erdulden muss. Wir wollen die Zeit anders ausdrücken als allgemein üblich.» 

Steht die Marke Breitling zum Beispiel weitgehend für Fliegeruhren, Omega vor allem für die Moonwatch oder Patek Philippe für Komplikationen, soll der Uhrenfan mit dem Namen Hermès einen spielerischen oder auch nachdenklichen Umgang mit der Zeit assoziieren – als wäre man, wie Delhotal es formuliert, irgendwie «aus der Zeit gefallen».

Der Ansatz für diese «Montres singulières» – deutsch: einzigartige Uhren – ist eher kreativ denn technisch, auch wenn mitunter raffinierte mechanische Lösungen gefunden werden mussten. Für die «Arceau L’Heure de la Lune» vertraute man dabei auf die Dienste der Spezialisten von Chronode.

Herausgekommen ist eine Uhr, die ein wahrlich kosmisches Spektakel bietet. Zwei Hilfszifferblätter, wie gegenüberliegende Planeten um die Zifferblattmitte drehend, zeigen einerseits das Datum, andererseits die Zeit. Sie lassen gleichzeitig den darunterliegenden Mond ab- oder zunehmen – indem sie ihn laufend zudecken oder freigeben. Je nach Phase sieht man den Mond als Sichel, als volle Scheibe oder gar nicht. 


» Letztlich ist unser Ziel vor allem, dass man die Zeit nicht erdulden muss. Wir wollen die Zeit anders ausdrücken als allgemein üblich.
Philippe Delhotal, Kreativ- und Entwicklungsdirektor bei Hermès Horloger


Gezeigt wird der Mond übrigens auf zwei gegenüberliegenden grossen Scheiben gleich doppelt, einmal die Süd-, einmal die Nordhemisphäre. Und weil also die Technik zwar wichtig ist, aber nicht im Zentrum steht, lohnt sich auch ein zweiter Blick auf die Flächen: Bei der südlichen Hemisphäre springt ein aufgestempelter Pegasus aus dem von Künstler Dimitri Rybaltchenko entworfenen Motiv Pleine Lune ins 

Auge, auf der nördlichen Hemisphäre eine aufgestempelte Mondoberfläche. Das eigentliche Zifferblatt gibts in Aventurin oder Meteorit-Gestein.

Der besondere Umgang mit dem Thema Zeit sei bei Hermès, wie Philippe Delhotal erwähnt, zur Signatur geworden. Richtig abzuzeichnen begann sich dies 2011 mit dem Modell «Arceau Le Temps Suspendu».

Zuerst fällt hier die etwas unübliche Platzierung der Krone bei 2 Uhr auf. Schaut man länger hin, entdeckt man – kaum sichtbar – einen kleinen Schieber bei 9 Uhr. Dieser löst, auf sanften Druck, die zunächst etwas irritierende Funktion aus: Der retrograde Datumszeiger verschwindet wie von Zauberhand, Stunden- und Minutenzeiger wiederum erstarren in einer leichten V-Form: Der eine Zeiger steht ganz kurz vor 12, der zweite ganz kurz nach 12. 

Der Witz dabei: Die Uhr hört jetzt auf, die Zeit anzuzeigen – bis man wieder den kleinen magischen Schieber drückt. Dann erst taucht der Datumszeiger wieder auf, und auch Stunden- und Minutenzeiger springen stracks dahin, wo sie inzwischen hingehören. Alles hat wieder seine Ordnung, aber der Besitzer hat für einen Moment die Zeit angehalten, der Ewigkeit ein bisschen etwas abgerungen. Ein tröstlicher Moment im mitunter hektischen Alltag, ein kurzer Augenblick des Innehaltens.

Verweilen und tagträumen

Typisch Hermès. Und für die Technik dahinter, eine sehr ungewöhnliche Komplikation, zeichnete das Atelier Agenhor mit Jean-Marc Wiederrecht verantwortlich. Die Uhr adelte Hermès zur Marke, die es uhrmacherisch fortan ernst zu nehmen galt: Erstmals erhielt man einen Preis am Grand Prix in Genf. Und so ging es weiter. Wo andere Marken damit auftrumpfen, dass ihre Stücke Zehntelsekunden messen, mit allerlei Kathedralenfedern die Stunden schlagen oder selbst auf dem Himalaya die Höhe über Meer akkurat anzeigen, präsentierte Hermès wiederholt eine Uhr, die nichts dergleichen kann, mit einer eigenwilligen Komplikation aber zum Verweilen und Tagträumen einlädt.

2015 kam die «Dressage L’Heure Masquée» – wie es zunächst scheint, ganz ohne Minutenzeiger. In Wirklichkeit dreht er versteckt unter dem Stundenzeiger mit, auf Knopfdruck springt er an den richtigen Ort. Die Botschaft ist klar: Man nehme es nicht immer allzu genau, man gönne sich auch mal ein bisschen Flanierzeit.

Darum ging es auch 2017 mit der «Slim d’Hermès L’Heure Impatiente». Und als Erklärung dafür zitiert Philippe Delhotal den berühmten Journalisten, Politiker und Staatsmann Georges Clemenceau (1841–1929): «Der beste Moment in der Liebe ist, wenn du die Treppe hinaufsteigst.» 

Vorfreude, führt Delhotal aus, sei die schönste Freude, und das will die Uhr betonen. Zum Beispiel für einen Mann, der sich eben auf das Treffen mit einer zauberhaften Frau freue. Man stellt den Zeitpunkt bei der Uhr ein, und eine Stunde vorher geht so etwas wie ein 

Countdown los, eine mechanische Sanduhr: Bei 6 Uhr beginnt ein retrograder Zeiger die verbleibende Zeit anzuzeigen, auf dass man jede Minute der Vorfreude auch richtig auskoste. Und dann erklingt der erlösende Glockenton.

Schon 2009 hatte es eine Uhr gegeben, die bestimmte Stunden am Tag optisch strecken wollte – natürlich nur gute Zeiten, andere wurden im Gegenteil gestaucht. Gewisse Zahlen wurden dafür bei der «Cape Cod Grandes Heures» auf dem Zifferblatt näher zueinandergerückt, andere erhielten grössere Abstände. Mechanisch keine einfache Sache: Der Zeiger musste, um die richtige Zeit anzuzeigen, mal schneller, mal langsamer über das Zifferblatt streichen.

Nun also «Arceau L’Heure de la Lune». Er habe schon immer eine Mondphasenuhr haben wollen, sagt Philippe Delhotal, und schon immer habe es ihn gestört, dass bei diesen Uhren der Mond in der Regel ganz klein auf dem Zifferblatt aufscheint und nicht als Star der Uhr. Genauso sieht es übrigens auch CEO Laurent Dordet: «Bei uns wird der Mond zum grossen zentralen Element der Uhr», sagte er im Interview (siehe WATCH AROUND Nr. 37). Die normalen Funktionen der Uhr hingegen seien Satelliten geworden: «Wir wollten, bildlich gesprochen, den Tisch umwerfen und die Dinge unkonventionell auf unsere Art lösen.» Ziel, so formuliert es die Marke mitunter auch, sei es, auf fast magische Art zum Mond zu fliegen und dabei das Gefühl für Raum und Zeit zu verlieren.

Philippe Delhotal, geistiger Vater des Konzepts und Uhrenmann mit grossem Erfahrungsrucksack dank Stationen bei Jaeger-LeCoultre, Patek Philippe und anderen, darf mit dem Ergebnis zufrieden sein. «Mit der Uhr», sagt er, «haben wir definitiv unser Terrain gefunden.» |


 

Aus Watch Around N° 44
Dez.2019/Januar 2020

 
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