CHANEL | INTERVIEW MIT FRÉDÉRIC GRANGIÉ,
CHEF DER UHREN- UND SCHMUCKDIVISION

» Ein Standard-Kaliber kam nicht mehr in Frage


Muss eine Modemarke wie Chanel in eine Dreizeiger-Uhr wirklich ein eigenes Basiswerk einbauen? Fréderic Grangié, Chef der Uhren- und Schmuckdivison, meint Ja. Und erklärt, warum bei der Marke die Frauen weiterhin im Zentrum stehen.


Interview: Stéphane Gachet

Chanel ist 1987 in die Uhrmacherei eingestiegen, aktuell befinden Sie sich mitten in einer industriellen Investitionsphase für den Bau der Kenissi-Manufaktur in Le Locle in Partnerschaft mit Rolex. Was versprechen Sie sich davon?

Wir bereiten einen Grössenwandel vor, und das Herzstück dieser Veränderung ist unser Modell J12. Es ist ein wichtiger Schritt für uns: Wir haben das Glück, mit der J12 ein so ikonisches Produkt wie unser Parfum N°5 oder unsere Tasche 2.55 in der Kollektion zu haben. 

Nur ist das nicht ganz neu: Die J12 stammt aus dem Jahr 2000. Was rechtfertigt die kolossalen Investitionen – die wir auf Hunderte von Millionen Euro schätzen – in ein industrielles Werkzeug, um Ihren Bestseller mit einem Hauskaliber auszustatten, einem einfachen Drei-Zeiger-Automatikwerk und Datum?

Sie haben recht, die Investitionen sind gewichtig, aber wir wollten diesen Grössenwandel vollziehen. Unsere Entscheidung widerspiegelt die sehr langfristige Strategie eines privaten Unternehmens in Familienbesitz. Die einzige Frage, die wir uns gestellt haben, war, wie wir die J12 aktualisieren können, ohne sie zu verbiegen. Mit Arnaud Chastaingt (Leiter des Studio de Création Horlogerie de Chanel seit 2013, d. Red.) haben wir das Design bis ins Detail untersucht und einen wesentlichen Punkt ausgemacht: Dieses aussergewöhnliche Modell kann nicht länger mit einem Standard-Industriewerk ausgestattet werden. Die Entwicklung eines eigenen Grundkalibers hat sich zu einer Priorität entwickelt.

Das mag ja sein, aber in der Schweiz gäbe es Lösungen, um diese Art von Basiskaliber bei Drittanbietern zu beziehen. Warum stürzen Sie sich in einen kalten und technischen Beruf, eine Art Gegensatz zum kreativen Schaffen hier in Paris?

Wir haben im Zusammenhang mit unserer grossen Komplikation schon früher begonnen, uns mit Uhrwerk-Know-how zu befassen (die «Monsieur de Chanel» von 2016 war mit dem ersten selbst gefertigten Kaliber ausgestattet, d. Red.). Mit der J12, die von Anfang an für Grossserien konzipiert war, kamen wir nun in eine industrielle Dimension. Eine Retusche ohne diesen Schritt kam nicht in Frage.


» Wir bereiten einen Grössenwandel vor, und das Herzstück dieser Veränderung ist unser Modell J12. Es ist ein wichtiger Schritt für uns.

– Frédéric Grangié, Chef der Uhren- und Schmuckdivision bei Chanel


Ein industrieller Ansatz schafft aber viel mehr Sachzwänge als eine kleine Serie mit grosser Komplikation. Steht diese Logik nicht im Widerspruch zur Freiheit der Kreation, die Sie sonst auf Ihre Fahne geschrieben haben?

Es gibt keinen Widerspruch. Alles beginnt mit der Kreation, und meine Aufgabe ist es, die Verbindung zwischen künstlerischer Leitung und Vertriebsstrategie herzustellen, um zu gewährleisten, dass die Kreation so auf den Markt kommt, wie sie konzipiert und beabsichtigt worden ist. Das ist grundlegend: Unsere ganze Differenzierung basiert auf der Kreation, und um ihre Integrität sicherzustellen, verlassen wir uns auf das fortschrittlichste Savoir-faire. Für das Redesign der J12 brauchen wir ein perfekt beherrschtes Industrie-Know-how. Wir haben dies mit dem Besten in Angriff genommen. In aller Bescheidenheit: Es wichtig, dass wir in die Welt der Uhrmacherei integriert sind.

Sie sagen, dass die Kreation an Ihre Vertriebsstrategie verknüpft sei. Wie ist Letztere aufgebaut?

Der Vertrieb unserer Uhren basiert auf drei Säulen: Chanel-Boutiquen für Uhren und Schmuck, ein Netzwerk von rund 350 Multimarken-Einzelhändlern und dazu unsere Chanel-Modeboutiquen. Insgesamt sind es etwas mehr als 550 Verkaufsstellen weltweit.

Die Kreation bestimme die Strategie, sagen Sie. Meistens ist es ja umgekehrt, und die CEOs übernehmen die Rolle des künstlerischen Leiters.

Dies kann durchaus gerechtfertigt sein, wenn der Leiter auch der Gründer der Marke ist. Was mich betrifft, so komme ich aus der Mode, und die Mode hat schon lange die operationelle und die künstlerische Leitung getrennt. Meine Aufgabe ist es, der kreativen Vision eine Existenzbasis zu geben. Ich mache das seit 20 Jahren, es ist für mich nicht wirklich exotisch. Der grosse Unterschied zur Mode besteht darin, dass in der Uhrenindustrie Projekte längerfristig vorbereitet werden müssen.

Sie sind seit 2016 bei Chanel, die neue J12 wurde dieses Jahr in Basel vorgestellt. Bedeutet das, dass das Redesign bereits vor Ihrer Ankunft im Gange war?

Überlegungen zum Design waren damals bereits im Gange.

Auch in Bezug auf das Werk?

Nein, und ich wollte sofort, dass es in dieser Uhr einen aussergewöhnlichen Motor gibt. Ausgangspunkt war übrigens der Gehäuseboden, das einzige Stahlteil beim sonst aus Keramik bestehenden Gehäuse der J12, das einzige Bauteil, das verschleisst und verkratzt. Das passte nicht mehr zum Redesign-Projekt, und wir beschlossen, auch für den Boden mit Keramik zu arbeiten und dazu das Werk der Uhr sichtbar zu machen. Von da an war es definitiv nicht mehr denkbar, die Uhr mit einem Standard-Industriewerk auszustatten. Die Kreation kümmerte sich also auch um das Werk, indem sie dafür die wesentlichen Codes des Unternehmens aufgriff und die Überlegungen weiterentwickelte, die 2016 mit dem Kaliber 1 der «Monsieur de Chanel» begonnen worden waren. Drei Jahre später vermarkten wir das Chanel-Kaliber 12.1.


» Der chinesische Kundenstamm ist zwar gross, aber unser Umsatz in China ist eine fast weisse Seite. Das Entwicklungspotenzial in einem Land, in dem der wirtschaftliche Einfluss der Frauen rasch zunimmt, ist in der Tat beachtlich.

– Frédéric Grangié, Chef der Uhren- und Schmuckdivision bei Chanel


Nochmals: Die industrielle Logik ist sehr speziell, sehr weit entfernt von der Kreation. Wie haben Sie diese beiden Welten zusammengeführt?

Ich entdeckte die Welt der absoluten Präzision. Die technischen Kriterien, unter anderem 70 Stunden Gangreserve, waren Voraussetzung, aber das Wesentliche waren die ästhetischen Kriterien. Es war faszinierend zu sehen, wie die industrielle Abteilung unsere Anforderungen übernahm, ohne jemals Abstriche zu machen. Selbst wenn es bedeutet hätte, dass man den Start verschieben muss.

Warum findet eigentlich der Relaunch der J12 in diesem Jahr statt und nicht 2020 zum 20. Geburtstag des Modells?

Wir haben die Freiheit, Produkte auf den Markt zu bringen, wenn sie fertig sind. Und Gabrielle Chanel hat die Zahl 19 übrigens immer gemocht.

Apropos Zahlen: Sie sprechen von einer neuen Grössenordnung – und nicht von einem Wechsel der Preispositionierung, zumal die J12 mit eigenem Werk nur geringfügig teurer sein wird als vorher. Aber von was für Stückzahlen sprechen wir?

Wir sprechen hier von Zehntausenden von Einheiten.

Sind Sie da nicht schon heute?

Wir wollen eine weitere Leistungssteigerung. Das Ziel ist zum einen, die industriellen Anstrengungen, die wir mit Kenissi unternommen haben, auch auf unsere Manufaktur Châtelain in La Chaux-de-Fonds zu übertragen. Und zum anderen, unsere Ikone durch eine Erhöhung der Zahl der getragenen Uhren zu stärken.

Wird dies das Gleichgewicht zwischen Quarz- und mechanischen Uhren verändern? Kann man von einem eigentlichen Wechsel sprechen?

Eher von einem ergänzenden Angebot. Quarz bleibt. Einige Kreationen wären ohne Quarz nicht möglich. Auch wenn der globale Appetit auf Automatikwerke rasant wächst, insbesondere bei chinesischen Kunden.

Was ist mit der männlichen Kundschaft? Wird der Mann zu einem strategischen Ziel?

Nein, die männliche Kundschaft ist keine strategische Linie.

Aber Sie sind genau in diesem Bereich mit Ihrer Komplikation gestartet.

Es war wichtig, die Komplikation mit der «Monsieur de Chanel» zu beginnen, aber wir sind sofort zu sehr ästhetischen Kreationen zurückgekehrt. Chanel bleibt ein feminines Haus. Unsere Ursprünge und unsere Zukunft sind da, auch wenn sich die 38 Millimeter grosse J12 auch sehr gut an Männer verkauft und in China sowie Japan als unisex wahrgenommen wird.

Eigentlich logisch für eine Uhr, die ursprünglich von einem Mann, Jacques Helleu, entworfen worden war, der ein Modell für sich selber wollte …

… die aber ihren wahren Ausdruck im Jahr 2003 mit der Lancierung der weissen Version fand, die definitiv feminin ist. Am Ende ist die Marke als solche stärker. Sie schlägt alles andere. Die Begegnung mit der männlichen Kundschaft kann stattfinden, aber sie wird von der Kreation her kommen, das Ziel wird die Ästhetik sein. Das wird unter keinen Umständen ein strategischer Schwerpunkt sein.

Eine weitere Besonderheit ist, dass Sie eines der wenigen Unternehmen sind, die erfolgreich Schmuck und Uhrmacherei verheiratet haben, ein wirtschaftlich vielversprechendes Paar. Wie bringen Sie diese beiden Sparten unter einen Hut?

Es gibt keinen Unterschied in der Art und Weise, wie wir da vorgehen. Der einzige Unterschied besteht darin, dass unsere Wurzeln im Schmuck sehr alt sind und auf die 1930er Jahre zurückgehen, während die Uhrmacherei erst 1987 integriert wurde.

Und das 30-jährige Bestehen der Uhrendivision haben Sie ganz diskret gefeiert.

Wir haben immerhin ein neues Modell präsentiert: Code Coco, ein mechanisches Juwel, das die Zeit anzeigt. Damals stellten wir uns die Frage nach einem Fest, aber 30 Jahre sind im Vergleich mit der Geschichte der Uhrmacherkunst nicht wirklich viel. Auf der anderen Seite waren wir beeindruckt von all den Kreationen, die wir in 30 Jahren geschaffen haben. Dann haben wir uns einfach für eine Hommage an die grosse Freiheit der Kreation entschieden, die uns umtreibt.

Was sind heute Ihre wichtigsten Märkte?

Wir sollten heute nicht mehr über Ländermärkte sprechen, sondern über die Kunden. Aber die chinesische Kundschaft ist offensichtlich von zentraler Bedeutung. Und hier haben wir den Vorteil, dass die feminine Uhr anders als die Herrenuhr von den Anti-Korruptionsmassnahmen nicht tangiert war.

Allerdings sind Sie in China nicht sehr etabliert.

Der chinesische Kundenstamm ist zwar gross, aber unser Umsatz in China ist eine fast weisse Seite. Das Entwicklungspotenzial in einem Land, in dem der wirtschaftliche Einfluss der Frauen rasch zunimmt, ist in der Tat beachtlich.

Was ist mit dem Rest der Welt?

Südostasien wächst stark, aber das grösste Potenzial liegt in den Vereinigten Staaten, wo die Stärke der Marke beträchtlich ist.

Und Europa: Haben Sie als Pariser Maison par excellence nicht unter den Demonstrationen gelitten, die seit Monaten in Paris stattfinden?

Natürlich ist die Marke hier daheim, die Kreation ist hier, die Modeschauen, alle Aktualität des Unternehmens ist mit Paris verbunden. Wir haben natürlich gelitten, aber nicht so wie andere in diesem Segment. Und es behindert unser Entwicklungspotenzial nicht.

Wie sieht Ihre Strategie bei der Erschliessung neuer Märkte aus?

Mein Mandat ist es, der bestehende Distribution zu dienen und am Erstarken der Marke mitzuwirken. Die Erschliessung neuer Märkte, wie beispielsweise Wachstum, wird nur eine Folge und kein Ziel sein. |


 

Aus Watch Around N° 38
Mai/Juni 2019

 
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INHALTSVERZEICHNIS:
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