SCHICKSAL | LUDOVIC BALLOUARD

Der Mann, der die Stunden zum Schwingen bringt


Wie ein Bretone im Herzen der feinen Genfer Uhrmacherkunst landete. Wie es ihm dank der Finanzkrise von 2008 gelang, die Unabhängigkeit zu erlangen. Und wie Ludovic Ballouard nach einem epischen Rechtsstreit, der ihn fast in die Knie zwang, wiederauferstand. Das Porträt eines verträumten Mannes, der auch klar denken kann.


Christian Kaufmann

Ein Hüne von einem Mann, dichtes Haar, wohl allein vom Wind gekämmt, buschige Augenbrauen, lächelnder Mund. Ludovic Ballouard ist Bretone, 48 Jahre alt. Er lebt mit seiner Frau in der Nähe von Genf, seine Werk­statt ist ein ehemaliges Postbüro. Ballouard produziert zwölf Uhren pro Jahr, nur auf Bestellung. Er hat zwei Modelle im Katalog und bereitet ein drittes für das nächste Jahr vor.

Seine Arbeiten werden von der Crème de la Crème geordert, High-End-Einzelhändler von Cellini in New York bis William & Son in London. Sammler auf der ganzen Welt kennen ihn schon lange, aber nach wie vor lächeln sie jedes Mal, wenn sie auf eine seiner Uhren schauen. Denn Ludovic Ballouard hat ein Markenzeichen: Er liebt die springende Stunde, er liebt Symbole, und er spielt gerne mit dem Lesen der Zeit.

Seine erste Errungenschaft hiess Upside Down: Nur die aktuelle Stundenzahl steht aufrecht, alle anderen sind kopfunter dargestellt. Seine zweite Produktion, Half Time, besteht aus zwei Scheiben, welche die Zahlen halbieren, mit Ausnahme der aktuellen Zeit. Die nächste Kreation wird vielleicht mental aus dem gleichen Holz geschnitzt sein, vielleicht aber auch nicht. Ballouard hat es sich zur Gewohnheit gemacht, nie etwas preiszugeben, bis er alles gesichert, gebaut und patentiert hat.


» Die Uhrmacherei ist nicht die Welt der Plüschbären.
Ludovic Ballouard, Uhrenmacher


«Die Uhrmacherei», sagt er, «ist nicht die Welt der Plüschbären.» Ein kindliches Understatement, das Ludovic Ballouard als Talisman einsetzt, um die Spuren eines dreijährigen homerischen Kampfes gegen einen Industrie-Titanen abzumildern. Drei Jahre, in denen er seine Karriere auf Eis gelegt hatte. Drei Jahre, in denen er keine einzige Uhr verkaufte. Drei Jahre, die mit dem Konkurs seiner ersten Firma endeten. 

Die Details dieser Schlacht, die von 2013 bis 2016 dauerte, seien hier nicht ausgebreitet. Es ging um eine Kreation für Harry Winston, eine Opus XIII, die das Licht der Welt nie erblicken würde. Das Wichtigste ist, dass Ballouard die Sache überstanden hat und weder seinen Ruf noch das geistige Eigentum seiner Schöpfungen verloren hat.

Zurück in die Vergangenheit. Im April 1971 wurde Ludovic Ballouard als bretonischer Bauernsohn geboren. 16 Jahre später entschied er sich beruflich für die Zahnprophylaxe und wollte Orthopädie-Techniker werden. Es fehlten die Voraussetzungen, er wandte sich also der Uhrmacherei zu und besuchte die Uhrmacherschule in Rennes. In der Schweiz fand er einen Job bei Lemania im Vallée de Joux. 

Eines Tages im November also belud er seinen Renault 4L, fuhr in die Schweiz und blieb gleich hinter der Grenze im 30 Zentimeter hohen Schnee stecken. Es war nicht seine Welt. Im Mai – nach wie vor lag Schnee auf der Strasse – fuhr er zurück in die Bretagne. Dort trat er in eine Werkstatt für Flugzeugwartung ein, wo er für die Bordinstrumente verantwortlich war.

«Wir brauchen Sie!»

Ende 1998 weckte die Uhrmacherei wieder seine Neugierde. Er blätterte in einem Magazin und beschloss, an die Marke mit der teuersten Uhr zu schreiben. Es war Franck Muller mit einer Uhr für zwei Millionen Franken. Die Antwort kam 48 Stunden später: «Kommen Sie so ­schnell wie möglich, wir brauchen Sie!» Er kam in die Serviceabteilung und liebte es: «Ich konnte jedes Modell in die Hände nehmen.»

Bei Franck Muller hatte er eine Idee. Und schon bei dieser Idee ging es um die Zahlen auf einer Uhr, um einen spielerischen Umgang damit. Er schlug das Projekt der Geschäftsleitung vor – die Ansichten darüber gingen auseinander. Ludovic Ballouard verliess das Unternehmen, nachdem er einen Knebelvertrag unterzeichnet hatte: Zwei Jahre müssten verstreichen, bevor er seine Idee verwirklichen dürfte. Einige Monate später sei sie im Katalog gestanden und zu einem der grossen Erfolge von Franck Muller geworden. Ballouard war darob irgendwie auch beruhigt: Er wusste jetzt, dass er Ideen haben konnte, gute Ideen.

Bald rief ihn ein Freund an und berichtete, soeben um 11 Uhr sei bei François-Paul Journe eine Stelle frei geworden. Um 14 Uhr war er vor Ort – und blieb da sieben Jahre. Drei Jahre davon konnte sich Ballouard um die ­Octa-Kollektion kümmern, dann vertraute man ihm die Grande Sonnerie an. «Ich war 35 Jahre alt, es war wunderschön.» Vier Jahre lang blieb er beim Thema und baute sich nebenbei seinen Ruf in der Sammlergemeinde auf.

Im September 2008 brach die globale Finanzwelt zusammen und riss die Haute Horlogerie zum Teil mit. Ludovic Ballouard war 39 Jahre alt, er kannte den Markt um die Grande Sonnerie, und er sah seine Stelle in Gefahr. Er entschied sich für die Unabhängigkeit, ging in die Mittagspause und, so erzählt er, entwickelte da seine eigene Idee. Um 14 Uhr kündigte er, um 14.30 Uhr hatte er erste Skizzen für seine eigene Uhr auf einen Post-it-Zettel hingeworfen.

Alles lief wie eine gut geölte Maschine, und das Öl dabei war die Krise. Dank der Krise fand Ballouard innerhalb einer Minute alle Lieferanten, die er brauchte. Dank der Krise schob ihm ein Lieferant ein Kilo Platin auf spätere Bezahlung zu. Dank der Krise fand er Inspiration: Die Finanzmärkte brachen zusammen, symbolisch verloren die Zahlen den Kopf. Der Uhrmacher nahm das wörtlich: Er stellte Zahlen auf den Kopf – eine Art spielerisches Zeichen für ein neues Carpe diem, bei dem nur die Zeit, in der wir gerade leben, eine Bedeutung haben sollte.

Dank der Krise fand er zwölf Sammler, die leidenschaftlich genug waren, um ein Projekt zu unterstützen, das ganz im Gegensatz zur vorsichtigen Monotonie stand, die fortan die Branche plagte. «Ihr habt gewünscht, dass ich meine Marke gründe, um meine Komplikation zu machen», sprach er zu ihnen. «Ich tue das jetzt, aber ich will euch vorderhand nicht mehr darüber verraten.» 

Den Sammlern reichte dies. Sie erklärten sich damit einverstanden, einen Vorschuss von 50 Prozent für eine Uhr zu zahlen, von der sie nichts wussten, ausser dass sie 40’000 Franken kosten, aus Platin bestehen und mit einem hauseigenen Werk bestückt sein würde.

Es war genug Geld, um die Ent­wicklung und Produktion von 150 Komponenten-Bausätzen zu finanzieren. Auf die Herstellung von Prototypen wurde verzichtet: «Zu teuer, es ist, als würde man für alles zweimal bezahlen», sagt Ballouard. Ein grosses Risiko, wenn man bedenkt, dass schon ein einziges Malteserkreuz in einem Werk schwer zu kontrollieren ist und die Komplikation zwölf Stück davon enthält.

Unter eigenem Namen

Ludovic Ballouard hatte mit dem Stück auch gleich seinen künftigen Weg vorgezeichnet, einen dreispurigen Weg, der aus technischer Meisterschaft, spielerischer Neuinterpretation der Zeit und pragmatischem Realismus besteht. Er wusste, dass die Uhrmacherei eine grosse Familie ist, dass der Brudermord aber auch vorkommt. Und er wusste, dass unabhängige Firmengründer nicht immer durchhielten und manchmal neben ihrer Marke auch Namen und Erbe verloren. Also liess er alles unter seinem eigenen Namen schützen.

Von 2009 bis 2012 verkaufte er zwischen 30 und 40 Uhren pro Jahr. Die Werk­statt wuchs auf sechs Mitarbeiter an. Im Jahr 2011 entwarf er sein zweites Modell, Half Time, dessen Lancierung durch das Harry-Winston-Projekt verzögert wurde, auf das er sich zwischen 2012 und 2013 konzentrierte. Dann kaufte die Swatch Group Harry Winston, und Ludovic Ballouards Geschäft wurde bis Oktober 2016 eingefroren. Erst zu diesem Zeitpunkt gründete er sein Unternehmen neu – wieder unter seinem Namen – und nahm den Faden seiner Kreationen wieder auf. Diesmal solo, ohne Partner, ohne Mitarbeiter, allein mit der unerschütterlichen Unterstützung seiner Frau.. |


 

Aus Watch Around N° 42
Okt./Nov. 2019

 
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