VIANNEY HALTER | ATELIER-BESUCH

Der Traum-Mechaniker


In der Nacht zählt er im Traum die Zahnräder seiner geplanten Uhren. Am Tag sieht er sich als Wandelnder zwischen den Zeiten. Vianney Halter ist ein Uhrmacher der besonderen Art.

Stéphane Gachet

Seine Werkstatt entspricht ganz seiner Philosophie. Sie ist vollgestopft, anarchisch, frei von allen Kinkerlitzchen der heutigen Zeit. Mehr ein Kabinett technologischer Kuriositäten, in dessen Mitte er gerade noch ein Plätzchen für seine Uhrmacherbank freimachen konnte. Alles in allem ein sympathisches Chaos, ein verrückter Kosmos, eine endlose Sammlung.

Vianney Halter ist der vielleicht letzte Vertreter der lächelnden Wissenschaft – einer prächtigen Utopie, welche die Menschheit seit fast fünf Jahrhunderten begleitet, von der Renaissance bis zum Ersten Weltkrieg, von der Moderne bis zur Entzauberung der Postmoderne.

Mit strahlendem Geist jedenfalls, genährt aus Millionen von Bezugspunkten, beschreibt Halter seine Rolle als Uhrmacher: Er will weder Techniker noch Designer sein, weder Unternehmer noch Künstler – nur ein Handwerker, der in der Uhr Technik und Ästhetik verbindet und dies mit seinem Umfeld teilen will.


» Ich muss die Dinge auseinandernehmen und verstehen. Und ich bin ein süchtiger Sammler aller Objekte, die vom Bedürfnis des Menschen zeugen, sich irgendwie vorwärtszubewegen.
– Vianney Halter, Kreateur


«Ich bin fasziniert von der Zeit, in der die Technik allen Zukunftsvisionen einen positiven Anstrich gab. Ich bin fasziniert von allen technischen Ausdrucksformen der handwerklichen Kunst. Und ich bin fasziniert von der Fähigkeit der Menschen, Dinge zu erschaffen, die keine Werkzeuge, sondern Objekte zum Teilen sind.»

Sein Atelier zu betreten, bedeutet, einen Fuss ausserhalb von Zeit und Raum zu setzen. Natürlich gibt es ein Hier und Jetzt in ­Sainte-Croix, auf den Gipfeln des Waadtländer Juras, im Herzen eines ehemaligen Industriegebäudes, wo Vianney Halter vorübergehend seine Zelte aufgeschlagen hat. Hier wartet er darauf, endlich in seine eigenen Gemäuer zu zügeln, in ein Industriegebäude der Kleinstadt, das schon ihm gehört.

Doch im Atelier erinnert vorerst nichts ans Jahr 2018. Ein Flugzeugflügel schwebt über einem schweren Motor-Brocken, der irgendwie an die «Nautilus» bei Jules Verne erinnert. Da stehen ein Kurbelgarnitursystem für sein Experimentalflugzeug, das er selber fliegt, ein Bullauge aus dem Weltraum, Regale, die unter dem Gewicht seltsamer Mechanismen ächzen. Und tonnenweise Staub. Es gibt einen Raum mit Kirchen- und Gebäudeuhren, das erste Stück kaufte er als 17-Jähriger, es stammt von Ende des 15. Jahrhunderts. Seit kurzem sammelt er auch Glocken.

Das seien, so sagt er, seine Zwänge: «Ich muss die Dinge auseinandernehmen und verstehen. Und ich bin ein süchtiger Sammler aller Objekte, die vom Bedürfnis des Menschen zeugen, sich irgendwie vorwärtszubewegen.»

Auf wundersame Weise gelang es Vianney Halter, Uhren zu bauen. «Uhrmacherei? Ich hätte etwas anderes tun können. Im Laufe der Geschichte war die Uhrmacherei stets die Schnittstelle von Mechanik und Hochtechnologie, mit dem Ziel, Menschen miteinander zu verbinden. Zufällig zeigen meine Uhren auch die Zeit an. Aber ich baue die Uhren im Grunde genommen nur, um mit der Zeit als solcher verbunden zu sein.»

Zukunftsromane

Kryptisch? Ein bisschen, sicher, aber egal. Halter schreitet voran, und wir werden später genug Zeit haben, seine Gedanken und Uhren besser zu begreifen. Ein erster Hinweis ist vielleicht seine Definition von sich selber: «Wie in der Literatur lebe ich in einem gewissen zeitlichen Abschnitt, so wie der Mensch eben gerne lebt.» Und um diesen Satz besser zu verstehen, muss man wissen, dass Vianney Halter seit seiner Kindheit Zukunftsromane und Sciencefiction verschlingt: Jules Verne, Arthur C. Clarke, René Barjavel, Isaac Asimov etc.

Übersetzt bedeutet dies, dass Vianney Halter sich selbst als Reisenden zwischen verschiedenen Zeiten sieht. Und seine Uhren als materiellen Kristallisationspunkt seiner Passagen von einer Zeit zur nächsten. Seine erste Uhr, die Antiqua, sei eine Projektion der Gegenwart auf die Vergangenheit gewesen, eine Art «zukünftige Vergangenheit» – von Marinechronometern Ferdinand Berthouds inspiriert. Seine jüngste Uhr, die Deep Space Tourbillon, die 2013 auf den Markt kam, ist die umgekehrte Reise: eine Uhr, die sozusagen aus der Zukunft kam und deren Aufgabe es sei, die aktuelle Philosophie der Zeitmessung auszudrücken.

Seine Uhren haben ihre eigene Geschichte und ihren magischen Touch. Denn wenn etwas Vianney Halter nicht fasziniert, dann ist es das Gerede vom Geschäft, vom Markt, von der Positionierung, vom Verkauf. Dennoch funktioniert das Unternehmen. Seine Werkstatt beschäftigt sieben Mitarbeiter und produziert zwischen 10 und 20 Uhren pro Jahr, die alle direkt und nur auf Bestellung verkauft werden.

Um eine seiner Uhren in echt zu sehen, braucht es ein bisschen Glück. Am Tag des Besuches von WATCH AROUND hatte er mehrere Stücke zur Revision in seinem Atelier, darunter eine Antiqua und ein Goldpfeil-Modell. Auch eine Deep Space Tourbillon und eine Grand Voyageur lagen auf einer Ecke seines Schreibtisches, ein experimentelles Autoquarz-Modell im Einsteigersegment, für dessen Entwicklung er nie Zeit gefunden hatte.

Überzeugungen

Vianney Halter lässt sich konsequent von seinen Überzeugungen leiten. Deshalb verliess er Sainte-Croix eines Tages, um sich in Dubai niederzulassen, wo er den grössten Teil des Jahres lebt. Die Entscheidung zum Wegzug war auf der Bank eines Gerichts gefallen, wo ihn die örtliche Justiz wie einen Fremden behandelt habe – «nach all den Jahren in der Schweiz».

Als Sohn eines Mechanikers wuchs er in Frankreich auf und absolvierte eine Uhrma­cherausbildung. Er kam 1989 über die Grenze und liess sich in Sainte-Croix nieder, im Schlepptau von François-Paul Journe und Denis Flageollet, den Gründern des Unternehmens THA, das rasch zu einem Schmelztiegel für französische Uhrmacher in der Schweiz wurde. Halter erinnert sich noch heute an seine damalige Faszination für Werkzeugmaschinen: «Als ich in der Schweiz ankam, war in der Uhrmacherei die Erinnerung an die grosse Krise allgegenwärtig. Viele Maschinen wurden stillgelegt. Das hat mich fasziniert.»

Er begann damit, für Dritte zu arbeiten, und blieb viele Jahre Zulieferer. Bis er 1998 an der Basler Uhrenmesse seine erste Uhr präsentierte, den Ewigen Kalender Antiqua. Und so wurde er, wie er gerne witzelt, langsam zu seinem «eigenen Zulieferer». Im Jahr 2000 präsentierte er sein zweites Modell, die Classic, eine Dreizeigeruhr-Variante der Antiqua. 2001 folgte die Contemporary, eine Variante mit Mondphase. Im selben Jahr entwickelte er mit der Firma Goldpfeil eine Uhr mit springender Stunde und Mondphase in einem rechteckigen Weissgoldgehäuse.

Die erfolgreichste Zusammenarbeit gab es für Harry Winston mit der Opus 3 im Jahr 2003. Sie brachte ihm den Innovationspreis beim Grand Prix de l’Horlogerie de Genève ein. Zum ersten Mal prangte sein Name auf der Vorderseite einer Uhr, neben dem Namen Harry Winston. Ein Symbol für Vianney Halter: «Ich hörte den Namen zum ersten Mal im Film ‹The World, the Flesh and the Devil›, einem Schwarzweiss-Drama mit Harry Belafonte.» Da sei Harry Winston zum Symbol einer faszinierenden, für ihn indes nicht zugänglichen Welt geworden. «Ich lernte seine Geschichte kennen und fand Gefallen an der Gemmologie», sagt Halter. Vierzig Jahre später stehe nun sein Name mit Harry Winston in Verbindung – «was mir bewies, dass nichts unzugänglich ist».

In der Tat. Seine kleine Werkstatt begann, die Stückzahlen zu erhöhen, und erreichte mit einer Produktion von rund 100 Uhren pro Jahr und fast 25 Mitarbeitern ihren Höhepunkt. Aber Halter war bald erschöpft, wollte innehalten und «20 Jahre Schlafmangel aufholen». Ein Jahr lang schlief er fast 15 Stunden pro Nacht. Er träumte viel und erinnerte sich an seine Träume. Er machte sie zu einer Wissenschaft, zu seinem zweiten Bewusstsein.

Und da nichts unzugänglich sei, wollte er eine Uhr aus seiner Welt des Schlafs mitbringen: die Deep Space mit ihrem der Sciencefiction-Episode «Deep Space Nine» entlehnten Namen, die er tagsüber gerne anschaut. «Ich sah die Uhr in meinen Träumen. Ich habe die Anzahl der Zähne der Zahnräder im Schlaf gezählt.» 

Eine Brücke, es wundert wohl kaum, zu einer seiner Inspirationsquellen: Auch der Uhrmacher und Schriftsteller Antide Janvier (1751–1835) soll vom Erscheinen technischer Diagramme in seinen Träumen beeindruckt gewesen sein. |


 

Aus Watch Around N° 33
November 2018

 
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INHALTSVERZEICHNIS:
Influencer | A-Post an Jean-Claude Biver | Grand Prix d’Horlogerie | Louis XIII | Interview Nicolas Baretzki, Montblanc | Bucherer Blue Editions | Grossdatum | Ricardo Guadalupe, CEO von Hublot | Baltic | WatchBox | Vianney Halter | Epsons Ambitionen