LAURENT PICCIOTTO, CHRONOPASSION | STIPPVISITE IN PARIS

» Ich verkaufe Spielzeug,
es amüsiert mich


Er hat Ende der 1980er Jahre erfolgreich ein ganz neues Verkaufskonzept für Uhren lanciert. Doch heute setzen Laurent Picciotto die Gelbwesten sowie globale Trends ziemlich zu. Ein Besuch hinter Stahlrollläden.

Stéphane Gachet

An diesem Tag war die Pariser Rue Saint-Honoré 271 eine Baustelle. Die feinen Karusselle, mittels deren sich sonst Uhren für Multimillionäre anmächelig unter dem Scheinwerferlicht drehen, standen still. Und an den Fassaden des Geschäftes mit dem Namen Chronopassion wurden die Stahlrollläden heruntergefahren.

Laurent Picciotto, ein legendärer Einzelhändler, der die Renaissance der feinen mechanischen Uhr Ende der 1980er Jahre befeuert hat, nimmt beim Betrachten seiner Heimatstadt die Miene des enttäuschten Liebhabers ein: «Wir haben stets geglaubt, dass es in Paris immer Touristen geben würde. Aber das Geschäft ist heute tot, weil genau die Leute nicht mehr kommen, die unsere Kunden waren.»

Die Gilets jaunes demonstrieren seit letztem November und besetzen jeden Samstag die Strassen. Und auch unter der Woche hat der Besucherstrom «nicht die übliche Dichte». Paris werde seines Lebenselixiers beraubt, sagt Picciotto, «denn Paris ist ein Umverteilungsmarkt», in dem Geschäfte mit durchreisenden Ausländern gemacht würden. Picciotto arbeitet deshalb heute vorab online mit seinen Kunden im Ausland – aus dem Felsbunker im Keller seines Ladens.

Hinter seinem Alibaba-Schreibtisch, das Samsung-Handy in der Hand, das eine Auge auf den Überwachungsbildschirmen, das andere auf dem Laptop, lässt Laurent Picciotto seine Geschichte im Zeitraffer passieren. Er war 27 Jahre alt, als er 1988 Chronopassion eröffnete. Er hatte keine Hochschulausbildung, dafür bereits zehn Jahre Berufsleben hinter sich: etwas Banking, ein Fuss im aufkommenden CD-Geschäft, ein bisschen Immobilien. «Ich hatte keine Ahnung vom Einzelhandel, ausser dass mir einiges nicht gefiel.»

«Weder cool noch Lustig»

Seine Lehre mit umgekehrten Vorzeichen begann 1974, als er mit seinem Vater ein Pariser Geschäft betrat, um eine Royal Oak zu kaufen. Der Türsteher war in Livrée gekleidet, die Verkäufer standen im Smoking da – eine Atmosphäre versprühend, die der 12-jährige Bub «weder cool noch lustig» fand: «Mich beschlich das seltsame Gefühl, mein Vater kaufe sich sein Spielzeug in einer Totengruft.» Jahre später wagte er den Schritt: «Ich eröffnete Chronopassion und vertraute meinen Ideen.»

Sein Credo war speziell – und ist es bis heute geblieben. Er will nicht «Markenuhren bolzen», sondern Produkte anbieten, die ihn interessieren. Zu dieser Zeit war die Uhrmacherei oft in die hinteren Regale der Juweliere verbannt. Er hingegen habe Uhren inszeniert, «als ob ich Schmuck verkaufen würde». 

Sein Handy vibriert. Er zieht es hervor. E-Mail-Pingpong. Sein Auge schweift über die Überwachungsbildschirme. Hinter den Fenstern wird der Stahlvorhang heruntergelassen. Morgen ist der 1. Mai, Scharmützel sind angekündigt. Und die Präfektur war deutlich: Wer sich nicht zu schützen wisse, dem könne unter Umständen nicht geholfen werden.

Ohne den Kopf zu drehen, nimmt Laurent Picciotto den Erzählfaden wieder auf. In den ersten zwei Jahren setzte er vor allem auf Gérald Genta, dessen Kreationen die teuersten auf dem Markt waren. Ab 1991 öffnete er das Geschäft für institutionellere Marken und begann mit einigen Unabhängigen zusammenzuarbeiten. Die neue Formel fand ihr Publikum, Picciotto begann seine Karriere als «Anwalt meiner Kunden».

Chronopassion war Leidenschaft, Picciotto liess sich von seinen Überzeugungen leiten – und kaufte mehr ein, als er verkaufen konnte. Doch schliesslich liess der Erfolg die Rückschläge verblassen: Alle erfolgreichen Mainstream-Unabhängigen der heutigen Luxusuhrmacherei machten ihre ersten kommerziellen Schritte bei ihm: MB&F, Urwerk, Richard Mille, HYT, Ressence etc. «Aber es gibt kein Rezept», sagt er. «Alles hängt von den Herstellern ab. Nur weil sie eines Tages erfolgreich waren, bedeutet das nicht, dass sie die Flamme am Leben erhalten können.»

Der Kern des Geschäfts ist die enge Beziehung, die er zu Herstellern aufgebaut hat, institutionelle und unabhängige. Laurent Picciotto hat seine Ideen, und diese Ideen münden oft in Sonderserien, die mitunter zu kommerziellen Erfolgen geraten. «Mich interessieren alle Facetten eines Produktes, weit tiefer, als das wohl bei den meisten Händlern der Fall ist. Und ich habe immer das Gefühl, dass ich der Aktionär der Menschen bin, die mir vertrauen.» 

Risikobereitschaft

Seine Risikobereitschaft hat sich bezahlt gemacht, aber die Wette auf die Zukunft ist schwierig. Auf nächsten Samstag ist eine neue Mobilisierung auf der Strasse angesagt. Die Stahlrollläden werden geschlossen sein, aber das Feuer schwelt auch innen im Haus: Die gesamte Uhrendistribution fahre auf den Felgen, sagt Picciotto, die eigentliche Frage sei, ob es für die Uhrmacherei noch eine Zukunft gebe: «Erleben wir derzeit eine endgültige Mutation? Oder nur eine vorübergehende Phase?»

Klar sei nur, dass sich die Konfiguration drastisch geändert habe. Stichworte dafür sind Apple und die Smartwatch, die globale wirtschaftliche Strategie der Marken, der Luxus, der sich dem Massenmarkt zuwende, Audemars Piguet und Richard Mille, die sich aus der herkömmlichen Distribution zurückziehen etc. 15 Jahre lang habe der «Muss-haben-Reflex» eine Blase am Leben gehalten, heute aber habe die Uhr ihre Rolle als Statussymbol weitgehend eingebüsst.

Zu dieser für die Händler wenig erbauenden Erkenntnis tragen die Gelbwesten weitere Verwirrung bei, wie ungebetene Gäste an einem Konzert ohne Dirigenten, das jeden Samstag über die Bühne geht. Auch da war Laurent Picciotto mit seiner Reaktion Vorreiter: Schon seit langer Zeit ist sein Geschäft samstags nicht mehr geöffnet. Zu viele nur neugierige und nicht wirklich interessierte Laufkundschaft habe es gegeben, welche die echten Kunden irritierte und abschreckte. Aber die Flamme ist bei Picciotto nicht erloschen, das Schlusswort nicht in Sicht: «Ich verkaufe Spielzeug, es amüsiert mich. Und solange ich es geniesse, werde ich weitermachen.» |


 

Aus Watch Around N° 38
Mai/Juni 2019

 
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INHALTSVERZEICHNIS:
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