LIP | NEUER START

Auferstanden aus Ruinen


Die einstige französische Vorzeigemarke will das Mai-68-Kapitel definitiv hinter sich lassen. Und als Designmarke reüssieren.


Stéphane Gachet

Es dürfte der grosse Traum so manchen Managers sein: die Wiederbelebung einer einst mythischen Marke, die allerdings seit einem halben Jahrhundert im Koma vor sich hindämmert. Einer Marke, bei der es reichen würde, die alten Kataloge aus der Gruft zu holen, um an die ruhmreiche alte Zeit anzuknüpfen. 

Genau das haben die neuen Verwalter von Lip in Angriff genommen. Vor drei Jahren hat der Markenbesitzer einen Spezialisten im Private-Label-Geschäft aus Besançon eingesetzt: Die Société des montres bisontines (SMB) soll die Kommerzialisierung der Marke in Lizenz vorantreiben. Lip wurde seither distributionsmässig wieder an den Fachhandel angebunden, nachdem man zuvor eher auf Warenhäuser gesetzt hatte. Deutliches Zeichen der Neugeburt war aber auch – seit drei Jahren – die Präsenz an der Uhrenmesse Baselworld.

Der Erfolg übertraf, glaubt man den Verantwortlichen, alle Erwartungen. SMB forcierte deshalb die Investitionen und nährt, befeuert von der lokalen Presse, Ambitionen im grossen Massstab. Vor allem die Lancierung des Modells Sous-Marinier geriet zur Hymne an die Renaissance von Lip, nachdem die Marke während 40 Jahren kein neues Modell mehr präsentiert hatte. 


» Wir visieren eine Klientel an, die in der Vergangenheit eine Lip trug und gerne wieder eine kaufen würde, aber etwas Wertigeres haben möchte.
Philippe Bérard, CEO SMB


Lip hatte im Nachgang zum Mai 1968 ein heisses Kapitel mit Streiks, Fabrikbesetzungen, wildem Verkauf von Lagern etc. geschrieben. Die Geschichte hallt bis heute nach – nicht nur zum Guten für die Marke, die aus der traditionellen Distribution herausfiel und vor sich hindümpelte. 

Im Herzen vieler Franzosen hat Lip allerdings immer einen Platz behalten, jetzt will man das internationale Parkett erobern. Dabei setzen die neuen Manager auf zwei Stossrichtungen. Erstens aufs Design mit den Ikonen Roger Tallon (Bild oben sein Modell Mach 2000) sowie François de Baschmakoff. Und zweitens auf einen Aufstieg in höhere Preissegmente dank der Lancierung eines eigenen Uhrenkalibers. 

Als Philippe Bérard, Direktor der Firma Société des montres bisontines (SMB) in Besançon, vor drei Jahren die Lizenz für Uhren der Marke Lip übernahm, hatte er keine Ahnung, worauf er sich eben eingelassen hatte. SMB hat einen Umsatz von fast 30 Millionen Euro, produziert mehr als eine Million Uhren pro Jahr, beschäftigt 125 Mitarbeiter und macht vorab Private-Label-Produkte für Dritte, Werbegeschenkuhren, Zulieferung. Dafür hat er drei eigene Marken: All Blacks, Certus sowie Go, hauptsächlich Uhren mit Quarzwerken.

Wilde Verkäufe

Punkto Lip beschloss er als Erstes, die Marke wieder an den traditionellen Fachhandel anzubinden, was unmittelbar Wirkung zeitigte: «Die Verkaufszahlen weisen eine signifikante Steigerung auf», freut sich Bérard. Im letzten Jahr habe das Volumen 35’000 Stück erreicht, viel mehr werde in der ersten Phase auch nicht machbar sein. «Wir werden wohl bei 40’000 bis 50’000 Stück landen», meint der Chef. Denn vorderhand sei Lip «eine sehr franko-schweizerische Sache», geprägt vom zweijährigen Post-Mai-68-Konflikt von 1973 bis 1975, der unauslöschlich im Gedächtnis der Franzosen verankert sei. «Wir produzieren! Wir verkaufen! Wir bezahlen uns!», hiess der Schlachtruf bei der Fabrikbesetzung – Lip fiel aus der Distribution, die Lager wurden wild verscherbelt.

Seit drei Jahren sind Lip-Uhren weder im Fachhandel erhältlich, und die historischen Modelle werden verkauft wie warme Weggli. In Paris avanciert die Marke zum Trendlabel und Must in den hippen Milieus, man spricht vom «Lipster-Effekt». Doch ausserhalb der Grande Nation sieht es nach wie vor recht dürr aus: Es gibt eine kleine Distribution in Portugal, ein bisschen etwas in Belgien, in China und in Japan – «aber dahinter steckt viel Aufwand für wenig Ertrag» sagt Bérard. Insgesamt zählt die Marke 700 Verkaufspunkte, zwei davon in der Schweiz.

Damit wollen sich die neuen Chefs nicht zufriedengeben. Mit seinem Sohn Pierre-Alain Bérard, 37 Jahre alt und verantwortlich für die Produktentwicklung, peilt Philippe Bérard einen Umsatz von fünf Millionen Euro für dieses Jahr oder spätestens 2019 an, nach wie vor hauptsächlich auf dem französischen Markt. 

Durststrecke überwunden

Längerfristig wird das internationale Geschäft anvisiert, doch hier sei in Bezug auf den Bekanntheitsgrad der Marke noch viel Arbeit nötig. Philippe Bérard, der 40 Jahre Erfahrung in der Branche hat, gibt sich vorsichtig optimistisch: «Die Ampel steht eher auf Grün denn auf Orange, wir bewegen uns eher in Richtung Erfolg als in Richtung Niederlage.»

Der Rückwärtsgang sei deshalb keine Option. Bérard spielt im Gegenteil mit dem Gedanken, die Marke in zwei Jahren richtig zu übernehmen; am 31. Dezember 2020 läuft die Lizenz aus. «Wir haben diese Variante seinerzeit aus Vorsicht gewählt», sagt er, «für den Fall, dass die Produkte nur noch für die Senioren Strahlkraft entwickeln könnte.» Doch drei Jahre später ist die Frage vom Tisch: «Die Durststrecke ist überwunden, Umkehr ist kein Thema.»

Und die Strategie für den internationalen Erfolg nimmt Formen an: «Die traditionellen Modelle mögen in Frankreich erfolgreich sein, international haben wir damit im Vergleich zu Marken wie Tissot indes kaum Chancen», sagt Bérard. «Punkten könnten wir hingegen durchaus mit Designer-Modellen.»

Tatsächlich hat Lip einen Schatz im Archiv, Modelle von Designern wie François de Baschmakoff, Michel Boyer, Jean Dinh Van, Isabelle Hebey, Marc Held, Michel Kinn, Rudolf Meyer und dem unausweichlichen Roger Tallon, der für Lip 1975 das famose Modell Mach 2000 gestaltete, mit den farbigen Drückern, die punkto Form an Augen von Langusten erinnern.

Von dieser Tallon-Uhr versprechen sich Vater und Sohn Bérard eine Hebelwirkung bei der Eroberung internationaler Märkte: «Es ist unsere Aufgabe, diese Ikone wachsen zu lassen.» Nebenbei: Für einmal ist der Begriff Ikone nicht strapaziert; wer ein altes Modell kauft, macht sicher nichts falsch, zumal die Originale immer schwieriger zu finden sind

Die Neulancierung steht noch bevor, und da kommt auch die Schweiz ins Spiel. Die ersten Replikas der Mach 2000 sind mit Ronda-Quarzwerken aus dem Kanton Baselland motorisiert, für die Dreizeigeruhren mit Datum hingegen griff man auf ISA- oder Myiota-Werke zurück.

Die gute Nachricht für Uhrenfreunde ist aber, dass schon bald eine mechanische Version auf den Markt kommen soll. Mit der Ambition, das traditionelle historische Werk von Lip, das R23, wiederaufleben zu lassen. Es handelt sich hier um ein automatisches Dreizeigerkaliber made in France. Das Projekt ist vor anderthalb Jahren angeschoben worden, an der Baselworld 2019 sollen erste Modelle gezeigt werden können. 

Das Risiko ist nicht unerheblich, denn man geht hier davon aus, dass Lip im Preissegment steigen könne. «Wir visieren eine Klientel an, die in der Vergangenheit eine Lip am Handgelenk trug und gerne wieder eine kaufen würde, aber etwas Wertigeres haben möchte», sagt Bérard. Die mechanische Mach 2000 wird in Anlehnung an gewisse Uhren aus der Schweiz oder aus Deutschland ein Preisschild um 1000 bis 1500 Franken tragen, das Quarzmodell gibts heute für rund 500 Euro.

Die Verbindung zur Schweiz ist über den Hersteller des R23-Werkes gegeben, die Manufaktur NovoParts. Denn produziert wird zwar in Frankreich, in Saucey bei Besançon mit 32 Mitarbeitern. Aber NovoParts besitzt mit NovoWatch in Le Locle auch Produktionsanlagen in der Schweiz (5 Mitarbeitende). Mustapha Lamrabet, der Chef des Unternehmens, kennt die Region sehr gut, er war ein Geschäftspartner von Valérien Jaquet bei der Concepto Watch Factory in La Chaux-de-Fonds.

Seit drei Jahren gehört Lamrabet zu den wenigen Produzenten von Industriewerken in Frankreich, im Katalog finden sich zwei Kaliber mit den Massen der ETA-Werke 6497 sowie 2824.

In der oberen Liga

Das R23 für Lip wird das dritte Kaliber des Unternehmens, zehn Jahre lang wird es exklusiv für Lip reserviert sein. Die Herausforderung bestand laut dem Konstrukteur darin, die Gene des Werkes aus dem 1960er Jahren nicht anzutasten, also Dicke, Durchmesser (23,9 Millimeter), Ästhetik etc. beizubehalten, bei Hemmung, Federhaus, Räderwerk aber technisch auf dem neusten Stand zu sein. Was die Finissierung anbelangt, will man eher in der oberen Liga spielen, soweit das für ein industrielles Produkt möglich ist. 30’000 bis 40’000 Werke sind als Jahresproduktion angepeilt. |



 

Aus Watch Around N° 28
Mai 2018

 
GZ28.jpg

INHALTSVERZEICHNIS:
Lob des Kalibers 2824 | LIP | Rexhep Rexhepi, Akrivia | Baume | Angelo Bonati, Panerai | «Moonwatch Only» | Flüchtlinge damals | Interview Silvain Dolla, Hamilton | Richard Mille | Eberhard & Co. | Franco Cologni | LIP | North Eagles | Die neuen französischen Uhrmacher | Die Quarzuhr | Rockefeller | Jo Siffert und Jack Heuer