MARKENPORTRÄT | RESSENCE

Klassischer Geist im Techno-Kleid


Seine Uhren fallen auf. Benoît Mintiens hat weder etwas mit der Zurschaustellung feiner Mechanik noch mit dem Zelebrieren traditioneller Klassik am Hut. Dafür mit Ergonomie und ungewöhnlichen Zifferblättern. 


Etienne Marchand

Messe Basel, Frühjahr 2010. Die Fachpresse war sich einig: Die Exzesse von Lehman Brothers und ähnlichen Unternehmen seien Geschichte, hiess es allenthalben, und die Uhrmacherei, die ebenfalls zu Übertreibungen geneigt habe, kehre nun als Folge klar zu ihren bewährten Klassikern zurück. 

Ein Branchenneuling allerdings schien die Nachricht nicht ganz mitbekommen zu haben. Er war nach Basel gepilgert, um eine Uhr zu präsentieren, die gar nichts Klassisches an sich hatte. Still sass der Mann, Benoît Mintiens heisst er, an jenem Tisch in einer Ecke des Pavillons, der für Unabhängige reserviert ist. Der belgische Industriedesigner war aus Antwerpen angereist, um seinen allerersten funktionalen Prototyp zu präsentieren: ein einzigartiges Objekt mit einer Planetenanzeige auf Aluminiumscheiben. Er hatte damit gerade den Grundstein für die Marke Ressence gelegt, die heute eines der angesehensten Labels in der jungen unabhängigen Kreativbranche ist.

Testballon

Heute verkauft Ressence gegen 300 Uhren pro Jahr. Mit dem neuen Modell Typ 2, das auch Elektronik beinhaltet und einen etwas anderen Kundenkreis anspricht als bisher, sollten es 400 werden. Der wichtigste Ländermarkt sind nach wie vor die Vereinigten Staaten mit einem Umsatzanteil von fast einem Drittel, es folgt Europa, Schweiz inklusive. Der Mittlere Osten steht an dritter Stelle, dann kommt Asien, das deutlich wächst.

Ressence verfügt über 35 Verkaufsstellen weltweit, hat dazu zwei Vertriebs­partner (für Japan und die Vereinigten Staaten) und einen Vertreter im Nahen Osten. Benoît Mintiens weist darauf hin, dass die Sache wesentlich komplexer ist, als es von aussen aussehen mag: «Wir schliessen ebenso viele Verkaufspunkte, wie wir neue eröffnen.»

Die Baselworld 2010 war ein Testballon, frisch aufgeblasen mit dem Elan eines Neulings. Mintiens erinnert sich: «Das Unternehmen war formell noch nicht gegründet worden. Ich war neugierig auf die Reaktionen und sagte mir, dass ich es zumindest versuchen müsse, egal was passiert. Ich kannte damals noch niemanden in der Branche, sogar den Pressetag der Messe habe ich verpasst.»

Der unerfahrene Benoît Mintiens hatte dennoch alles richtig gemacht, die Marke Ressence war geboren, und ihr Gründer begann, seine Vision mit Konstanz und Konsequenz zu entwickeln – als hätte der aus dem Nichts gekommene junge Mann alle Lehren der Markenbildung einfach intus und auf seinen kleinen Massstab übertragen.

Mintiens begann, seinem Unternehmen ein Gesicht zu geben, nicht sein eigenes – Ressence ist keine egoistische Reise –, sondern die spezielle Anzeige seiner Uhr, eine starke und einzigartige Signatur. Er selbst skizziert es so: «Das Besondere bei meiner Lösung ist, dass die Zeitanzeige, sosehr sie sich von der Normalität unterscheidet, nicht mit der traditionellen Logik des Lesens bricht.» Tatsächlich sind seine Planetenzifferblätter sehr konventionell, wenn man genau hinschaut. Es gibt drei Zeiger für Stunden, Minuten und Sekunden, gut hierarchisch abgestuft, in einem stilisierten, aber klassischen Design. «Das war absolut entscheidend für die Akzeptanz des Konzepts», sagt er.


» Man muss Bremsen haben, die der Leistung des Motors entsprechen.
– Benoît Mintiens, Markengründer


Benoît Mintiens geht noch weiter. Sein ursprüngliches Ziel sei gewesen, «eine Uhr zu bauen und nicht ein UFO» – gleichzeitig aber eine deutliche Innovation zu bringen, eine Konzentration auf die Quintessenz des Designs: die Ergonomie. Hier liege die intime Beziehung, die den Menschen mit der Uhr verbinde. Es gehe um die Lesbarkeit, den Komfort beim Tragen und um Benutzerfreundlichkeit. «Alle meine Innovationen gehen in die gleiche Richtung. Das neue Zifferblatt war nur ein erster Schritt.»

Benoît Mintiens, der kein gelernter Uhrmacher ist, ist nicht an der Zurschaustellung von schöner Mechanik interessiert. Er hat eine Position eingenommen, bei der alles vom Benutzer ausgeht. Die Uhr, sagt er, sei ein «Avatar» ihres Besitzers, mit allen damit verbundenen technischen, ästhetischen und sozialen Implikationen. Eine Art Selbstportrait am Handgelenk mit allerlei komplexen Bedeutungen, aber mit einem simplen Ausgangspunkt: der Interaktion mit dem Produkt. 

Es gehe um Verführung und Ergonomie, aber die Uhr solle nicht nur schön und funktional sein, sie müsse auch eine soziale Dimension beinhalten und «vom Umfeld des Besitzers verstanden und geschätzt werden». Die Uhr sei also definitiv ein «multidimensionales» Objekt, und in dieser Logik sieht Mintiens die Entwicklung seiner Marke. So wurde beispielsweise das Modell Typ 2, das Elektronik und Mechanik kombiniert, als Antwort auf eine grundlegende Frage konzipiert: Was kann man besser machen? In diesem Sinne entwickelte er sein E-Crown-System, eine automatische und computergestützte Schnittstelle zur Einstellung der Uhrzeit bei der mechanischen Anzeige.

Philosophische Bedeutung

Es gibt also eine philosophische Bedeutung in Benoît Mintiens’ Projekt, ein kleines Plus, «das dazu führt, dass sich Menschen, die eine Ressence tragen, mit dem Produkt identifizieren können». Es sei kein Zufall, dass ein grosser Teil seiner Kunden stark mit Innovation und Technologie verbunden ist. Deshalb müsse man sich «um den Mehrwert kümmern, der sich aus der Kombination von Ästhetik und Technik ergibt und sozusagen die Kompassnadel vom Zeigen auf den Normalpunkt ablenken».

Mintiens stellte nicht immer Uhren her, er hatte in seinem ersten Berufsleben mit Investitionsgütern zu tun. Die Uhren aber faszinierte ihn schon immer, und das habe mit der ganzheitlichen Natur dieses Produktes zu tun. Nur wenn alle Eigenschaften aufeinander abgestimmt seien – Ästhetik, Preis, Technologie, Ergonomie, soziale Anerkennung, Markenimage, Kunden etc. –, sei die Sache stimmig: «Es gibt nicht viele Branchen, bei denen der Erfolg von derart vielen Kriterien abhängt. Mein Wunsch ist es, eine nachhaltige Marke aufzubauen und in diesem Bereich in kleinem Rahmen zu existieren, man muss etwas Kohärentes und Erkennbares mitbringen.»

Die Philosophie hat ihr Publikum gefunden, Ressence etablierte sich rasch und fand ihren Weg in jeden Winkel der Welt, etwa zu den bekanntesten Einzelhändlern wie Laurent Picciotto mit Chronopassion (siehe WATCH AROUND Nr. 38) oder zur Galerie Art of Time in Monaco von Uhrenpatron Karl-Friedrich Scheufele (WATCH AROUND Nr. 37).

Ressence ist auch im am Genfer Uhrensalon SIHH im Carré des Horlogers vertreten und wurde am Genfer Grand Prix d’Horlogerie ausgezeichnet. Erreicht hat Benoit Mintiens dies als One-Man-Show, als Alleinaktionär seines Unternehmens, der vorab auf völlige Unabhängigkeit pocht.

Ohne es als Strategie geplant zu haben, hat Mintiens den Königsweg eines ganz klaren, wiedererkennbaren Produktes mit thematischen Variationen eingeschlagen, wie das viele erfolgreiche Marken tun. Seine Hauptarbeitsachse bleibt die Anzeige der Zeit. Und dazu hat er natürlich auch eine Theorie parat: «Wiedererkennbarkeit zu schaffen, funktioniert über das Zifferblatt, nicht über das Gehäuse.» Bei der Variation des Themas sei allerdings alles offen: «Ich sage nicht, dass ich auf ewige Zeit nichts anderes tun werde, ein kreatives Gehirn hört nie auf zu denken.»

Von Anfang an hat der Unternehmer alle Risiken auf sich genommen, ist Schritt für Schritt vorangekommen, mit einer wichtigen Erkenntnis: «Völlig unabhängig zu sein, ist wichtig, wenn man Quereinsteiger ist.» Zwischen 2010 und 2014 arbeitete er deshalb weiterhin auch als Berater für Industriedesign, um nicht unter Druck weitermachen zu müssen: «Ich war nicht auf Ressence angewiesen, ich konnte mir Fehler leisten.» Allen Kunden, die ein Modell seiner ersten Serie bestellten – 50 Stück waren geplant –, schrieb er eine Nachricht: «Sie müssen wissen, dass ich noch nie Uhren hergestellt habe. Die Zeitmesser werden erst dann parat sein, wenn sie wirklich fertig sind.»

Auch in Bezug auf den Vertrieb gab es eine Lernkurve. Heute sind Mintiens’ Kriterien für die Auswahl von Partnern klar: «Ich gehe nur langfristige Verpflichtungen ein. Kurzfristigkeit kostet immer und gefährdet den Wert der Marke.» Dass er einmal die Internetplattform Chrono24 überwachen müsste, um Graumarkt-Händler aufzuspüren, hätte er nie gedacht, er lernte aber, dass es nötig ist: «Der Wert einer Marke hängt mit den Preisen auf dem Gebrauchtmarkt zusammen – da ist Chrono24 der klare Indikator.» Ab 2015 begann der Jungunternehmer damit, den Graumarkt zu bekämpfen. Er kündigte allen Verkaufspunkten, die hier mitmischten. «Man muss Bremsen haben», sagt er, «die der Leistung des Motors entsprechen.»

Fehlentscheide

Mintiens lernte auch allerhand über die Produktion, und nach ein paar Fehlentscheidungen ist er heute wie folgt aufgestellt: Fünf Mitarbeiter sind in Belgien stationiert, sechs in der Schweiz, ein Einkaufsleiter und fünf Uhrmacher, die sich bei einem Subunternehmer mit Ressence beschäftigen. Noch eine Erkenntnis: Eine gut aussehende Uhr für 100’000 Franken sei einfacher zu bauen als eine für 10’000 Franken – Mintiens’ Preise liegen zwischen 10’000 und 20’000 Franken.

Schliesslich lernte er, eine Uhr von Anfang bis Ende zu bauen, Benoît Mintiens entwickelt alles selbst: Die Mechanik für die Nullserie, den Typ 1 und den Typ 3 ist zu 100 Prozent auf seinem Mist gewachsen, er kümmerte sich auch um einen grossen Teil der im Typ 2 eingebetteten Elektronik.

Jetzt geht es für ihn noch darum, ein gesundes und kontrolliertes Wachstum zu schaffen und nicht nur reaktiv zu arbeiten, sondern eine mittelfristige Planung aufzugleisen. Vielversprechend: Nach den bewegten Jahren der Gründerzeit ist er derzeit mit seinem ersten soliden Fünfjahresplan beschäftigt. |


 

Aus Watch Around N° 39
Juni/Juli 2019

 
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