EMMANUEL BOUCHET | PORTRÄT

Der mit dem absoluten Gehör für Mechanik


Dies ist die Geschichte eines Uhrmachers, der als Restaurator in Frankreich zu Ruhm und Ehren kam, alles stehen liess, in der Schweiz bei Prestigemarken anheuerte, sein eigenes Unternehmen gründete, Triumph und Schmerz erfuhr – und wieder ganz von vorne begann.

Stéphane Gachet

Emmanuel Bouchet ist müde, aber er strahlt. Es ist Mitte Juli, wir treffen ihn im Dörfchen Les Bayards am Ende des Val de Travers. Bouchet ist eben von einer erfolgreichen Woche in Miami zurückgekehrt, sogar ein 20-minütiges Bad im Ozean gönnte er sich – die «erste Auszeit» seit vier Jahren, als er seine eigene Marke gründete.

Damals, im Herbst 2014, hatte er am Londoner Uhrensalon QP seine erste Uhr vorgestellt. «Complication One» heisst sie und war viel mehr als nur die erste Komplikation einer Serie. Sie war ein Spiegel, eine Art mechanisches und mystisches Selbstporträt seines Schöpfers.

Die beste Episode seiner Karriere geht auf das Jahr 2012 zurück, auf die Opus 12 für Harry Winston. Sozusagen als öffentliche Krönung eines Schaffens, das zehn Jahre lang bei Vaucher Manufacture im Schatten der diskreten Arbeit für allerlei Luxusmarken stattgefunden hatte, baute er mit drei Partnern die Firma Centagora auf. Opus 12 markierte den Anfang von fast zwei Jahren des Glücks – die allerdings ein jähes Ende fanden und ­Emmanuel Bouchet in die volle Selbständigkeit katapultierten. Mit seiner eigenen Marke und seinem Entwicklungsbüro Maclef.

Bouchet investierte alles in das Abenteuer, seinen Ruf, seine Finanzen, seinen Glauben und seine letzte Energie.

In seinem ersten Leben war er ein versierter Restaurator gewesen, in Frankreich berühmt und gefragt. Die grossen Museen besuchten ihn im Familienkontor, das er im Alter von 21 Jahren in Anserville, einer kleinen Stadt an der Maas, übernommen hatte. 


» Die wahre Komplikation ist der Augenblick.
Emmanuel Bouchet, Uhrmacher


Er hatte mit allem zu tun, was Uhren zum Laufen bringt, mit grossen Comtoise-Mechaniken, mit den Werken kleiner Kuckucks­uhren, mit Taschen- und Armbanduhren und natürlich mit allen denkbaren Komplikationen. Parallel dazu wandte er sich dem Schmuck zu und lernte alles über edle Steine. Vor ihm zeichnete sich der geruhsame Lebenslauf eines talentierten, gefragten und ­zufriedenen Handwerkers ab. «Die Mechanik hat mich schon immer angesprochen», resümiert Emmanuel Bouchet.

Dennoch liess er alles fallen und verliess an einem Tag 1999, im Alter von 33 Jahren, das Ufer der Maas für dasjenige des Doubs im Schweizer Jura. Er wollte seine Kenntnisse des Handwerks verfeinern, die Uhrmacherkunst auch in ihrer industriellen Dimension verstehen – «und endlich selber eine Uhr bauen».

Sein Ruhm eilte ihm voraus. Schon an der Grenze wurde er von Jaeger-LeCoultre ­abgefangen und startete im Atelier der grossen Komplikationen. Im industriellen Umfeld erwies sich der ehemalige Restaurator mit seiner Intuition als echtes Talent. Und er entdeckte eine Gabe, die unerkannt in ihm geschlummert hatte: Auf den ersten Blick kann Bouchet mechanische Probleme erkennen, er stellt die Diagnose, löst die Schwierigkeiten und schreibt sozusagen die Produktionspartituren neu. Er hat in Bezug auf die Uhrenmechanik das, was man in der Musik das absolute Gehör nennt.

Der Ewige Kalender einer Reverso offenbarte ihm die Begabung. Er kümmerte sich um eine limitierte Serie, an der sich die Teams von Jaeger-LeCoultre die Zähne ausgebissen hatten. Sie konnte schliesslich in Rekordzeit vermarktet werden. 

Emmanuel Bouchet lernte in dieser Zeit das Meccano der Branche kennen, ihre Höhen und Tiefen, ihren Glanz, ihre Talente und ihre klugen Mentoren. Aber auch ihre kleinen Barone, ihre geschützten Werkstätten, festgefahrene Konventionen, Fesseln und Eitelkeiten.

2002 trat er der Uhrenabteilung der Sandoz Stiftung in Fleurier bei und machte umgehend Karriere in der Vaucher Manufacture, wo er die Abteilung für grosse Komplikationen aufbaute. Sein Gespür für feine Mechanik machte ihn umgehend zum Mittler zwischen Uhrmachern und dem technischen Büro. Sechs Jahre lang blieb er bei Vaucher, «ich hatte das Glück, von Leuten umgeben zu sein, die mir vertrauten», sagt er heute.

Doch die süsse Versuchung der Selbständigkeit liess ihn nicht los. Mit vier Mitarbeitern gründete er im Juli 2008 Centagora, die Aussicht auf mehrere Mandate zu Beginn war beruhigende Perspektive genug. Die indes brach jäh ab, als Kollateralschaden des Zusammenbruchs der Bank Lehman Brothers.

Der erste Auftrag kam schliesslich von TAG Heuer im Zusammenhang mit der Industrialisierung ihres Chronographenwerks 1887. Zur gleichen Zeit entwickelte Emmanuel Bouchet seine Idee der rotierenden Zeiger, die er Harry Winston verkaufen konnte.

Was Bouchet damals noch nicht wissen konnte: Die Baustelle Opus 12 sollte für ihn auch eine Art Gefängnis werden. Endlose Tage und Nächte, wochen- und monatelang blieb er wie angekettet an seiner Werkbank. Ausgelaugt kam er 2012 zur Baselworld, doch seine Uhr lief, und das Publikum sprach darauf an. Bouchet wurde zum Botschafter der Uhr, war plötzlich mit den Granden der Uhrenwelt per Du, mit den Sammlern, mit der Presse. Ein Aufstieg ohne Weg zurück, so schien es – «was sollte ich jetzt noch tun?».

Äussere Umstände gaben die Antwort. Das Licht ging abrupt aus, nachdem Harry Winston von der Swatch Group übernommen und das Opus-Programm monatelang in der Warteschleife geblieben war. Centagora entliess Personal, Bouchet finanzierte ein letztes Mandat selber: den Bau seiner eigenen Uhr – ganz im Alleingang.

Er gründete das Designbüro Maclef und die Marke mit seinem Namen. Und klar war für ihn, dass seine erste eigene Kreation auf einer Idee basieren müsste, die schon lange in seinem Kopf herumschwirrte: eine Uhr mit springender Minute und Stunde. «Denn», so sagt er, «die wahre Komplikation ist der Augenblick.»

Die Musik spielt auf der Oberseite der Uhr: Sekunden-, Minuten- und Stundenzeiger sind auf drei Hilfszifferblättern angeordnet, synchronisiert durch eine zweirädrige Hemmung und einen Anker, der von einem Reu­leaux-Polygon getaktet wird – einer Art Dreieck mit Bogenflächen. 

Ganz wie selbstverständlich springt der Minutenzeiger einmal pro Minute vorwärts, der Stundenzeiger einmal pro Stunde, ein symmetrisches mechanisches Ballett in Zeitlupe, das auf schier verstörende Art und Weise an die Emotionen erinnert, die komplizierte Taschenuhren auslösen können.

Die Präsentation in London Ende 2014 geriet zum Erfolg. Emmanuel Bouchet tingelt seither durch die Welt der Uhrmacherkunst und baut langsam sein Netzwerk auf. Heute arbeitet er mit einem Dutzend prominenten Einzelhändlern zusammen.

Die Kollektion nimmt Formen an, präsentiert wurde bereits das Frauenmodell EB02. Schon bald soll die Weiterentwicklung der «Complication One» kommen, eine Neuauflage ist für diesen Herbst angekündigt, im Frühjahr soll dann eine zweite Komplikation folgen. |


 

Aus Watch Around N° 30
August 2018

 
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INHALTSVERZEICHNIS:
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