FLORIAN SCHLUMPF | KINETISCHE SKULPTUREN 

» Die Zeit als etwas Unbegreifliches


Die Frage drängt sich auf: Sind das Uhren? Und die Antwort ist klar: Ja – aber nicht nur. Die Maschinen, die Florian Schlumpf, Absolvent der Kunstgewerbeschule, Bildhauer und Maschineningenieur, im bündnerischen Trimmis entwickelt und baut, zeigen zwar auf Wunsch die Uhrzeit an. Es geht dabei indes mehr um Philosophie als um profane Zeitmessung.

Henri Nidegger

Seine Maschinen wollen dazu verführen, so sagt Florian Schlumpf, «die Zeit als etwas Einzigartiges, letztlich Unbegreifliches zu entdecken und zu geniessen, statt ihre angebliche Knappheit zu verwünschen». Ziel, so Florian Schlumpf: «Die Zeit in ihrer Unvergänglichkeit einmal bewusst verstreichen zu lassen, vielleicht mit einem Glas Wein und einer Zigarre in der Hand. Und nach einer Stunde von keinem Zeiger ermahnt zu werden, schon wieder sechzig Minuten lang nichts Produktives getan zu haben.»

Schlumpf baut auch monumentale Maschinen, mehrere Meter hoch. «Zeitmaschinen» nennt er sie, weil es mehr kinetische Kunstwerke als gemeine Uhren sind. Dabei entwickelt er auch innovative Lösungen: Statt harter Ankerstifte, die in einem herkömmlichen Uhrwerk die kinetische Energie bei jedem Takt vernichten, verwendet er gefederte Ankerpaletten aus Federstahl, bei den grössten Maschinen bis zu einem Meter lang.

Seidenweich

Vorteil: Die Räder bleiben in konstanter Bewegung und benötigen nur einen Bruchteil an Antriebsenergie. Auch akustisch macht sich dies bemerkbar: Während das laute Ticktack eines gewöhnlichen Uhrwerks für die in Schall umgesetzte Verlustenergie steht, laufen auch seine grössten Maschinen seidenweich sanft und praktisch geräuschlos.

Florian Schlumpfs Tüftelei blieb nicht unbeachtet. Bald fiel er der Académie Horlogère des Créateurs Indépendants (AHCI) auf, die die Crème de la Crème des unabhängigen Uhrenschaffens vereint. Eben wurde Schlumpf zum Kandidaten erkoren.

In Erscheinung getreten war sein Wirken schon früher. Die erste Zeitmaschine fiel einem russischen Geschäftsmann an der Baselword 2014 auf. Er fragte Schlumpf, ob er eine solche Maschine – sie war gut zwei Meter hoch – auch doppelt so gross bauen könnte. Daraus entstand in Kooperation mit Raketa, Russlands grösster Uhren­manufaktur, eines der grössten je gebauten Uhrwerke. Das Monumentalobjekt ist in Moskau zum Publikumsmagneten avanciert: Es steht im Warenhaus Detski Mir und imponiert mit einer Höhe von zwölf Metern. Einzelne Zahnräder messen vier Meter.

«Harmonische Ambiance»

Angefangen hatte seine berufliche Laufbahn Ende der 1980er Jahre mit einer Entwicklung fürs Velo, der Tretlagerschaltung «mountain-drive», die Schlumpf über 20 Jahre lang herstellte und weltweit vermarktete. 2011 verkaufte er die gesamte Produktion. Die wiedergefundene Zeit erlaubte ihm, sich einer alten Liebhaberei zuzuwenden, die schon seit Kindertagen in ihm schlummerte. Er wollte eine Maschine bauen, die dank ihrer gemächlichen Pendelschwingung und ihrem feinen Geräusch «dem Raum eine harmonische Ambiance gibt, wo man sich wohlfühlt, zur Ruhe kommen kann und sich dabei der Zeit auf einer anderen Ebene nähert als über chronometrische Genauigkeit».|


 

Aus Watch Around N° 29
Juni 2018

 
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INHALTSVERZEICHNIS:
Pascal Raffy, Bovet | Florian Schlumpf | Made in France | Interview Christoph Grainger-Herr, IWC | Museum Beyer | Christian-Louis Col, Ikepod | Dubois Dépraz | Die Rolex-Daytona-Euphorie | Svend Andersen