INSIDE RAKETA | REPORTAGE

Als flöge Gagarin noch um die Erde


Exotisch, romantisch, menschlich, authentisch und zeitlos: Der St. Petersburger Uhrenbauer hat seine Neupositionierung auf dem heimischen Markt bestanden und bereitet sich auf die internationale Expansion vor. Sie basiert auf vorsintflutlichen Produktionsmitteln aus der Sowjetzeit.

Stéphane Gachet

Zu einer Zeit, da die engagiertesten Schweizer Uhrmacher darum kämpfen, das Know-how für handgefertigte Uhren ohne Computerhilfe zu erhalten, gibt es im Finnischen Meerbusen eine kleine Fabrik, die dies seit der Reise von Juri Gagarin ins Weltall vollbringt: Raketa, die letzte in Betrieb befindliche russische Uhrenfabrik, der letzte Vertreter einer Industrie, die nach dem Nazi-Winter aufgeblüht war und nach der Wende rapide zu welken begann.

Die Manufaktur ist in dem Zustand, in dem sie sich zum Zeitpunkt ihrer Rettung in extremis in den 1990er Jahren befand – unberührt. Ein rohes Juwel, das sich im letzten noch gesunden Gebäude eines einst riesigen Industriekomplexes eingenistet hat. Es war ein komplettes Dorf damals mit Wohnhäusern, Kindergärten und Schulen; Raketa hat bis zu fünf Millionen mechanische Uhren pro Jahr hergestellt und war mit mehreren tausend Mitarbeitern der grösste Arbeitgeber der Region. Heute sind es noch 80, sie produzieren fast 6000 Uhren pro Jahr. Der Durchschnittspreis liegt bei etwa tausend Euro, umgerechnet gegen 8000 Rubel, was einem sehr guten Monatsgehalt vor Ort entspricht. Die Klientel ist im Wesentlichen russisch und auch ein wenig französisch. In den letzten anderthalb Jahren ist Raketa auch in das exklusive Segment eingestiegen, mit einer zweiten Marke, Imperial Peterhof Factory (IPF). Da gibt es Gehäuse aus massivem Gold sowie Handwerkskunst wie Halbedelsteinzifferblätter. Letztere sind eine Hommage an die Ursprünge der Manufaktur, die im 18. Jahrhundert von Peter dem Grossen für den Steinschliff geschaffen wurde. Die nächste Stufe soll mit einer selektiven internationalen Expansion starten.

Der Besuch beginnt und endet bei einer kleinen Museumsboutique, in der mit Nationalstolz beladene Reliquien einer glorreichen Vergangenheit zu bewundern sind. Dazu natürlich die aktuellen Uhren. Fast 3000 Besucher kommen hier jedes Jahr vorbei, nur ein Bruchteil der sechs Millionen Touristen, die Peterhof besuchen, eine Satellitenstadt von St. Petersburg. Peter der Grosse hatte sie zu seiner Sommerresidenz gemacht, der extravagante Barockpalast ist nur wenige hundert Meter von Raketa entfernt.

Das Büro des Direktors befindet sich im ersten Stock, neben dem Klassenzimmer der einzigen Uhrmacherschule Russlands. Hier reichen altgediente Angestellte ihr Wissen an neue Generationen weiter. Es gehe nicht darum, Uhrmacher auszubilden, wird präzisiert, sondern darum, dass jeder einen Überblick über ein mechanisches Uhrwerk erhalte. Und darum, dass er die Bedeutung seiner eigenen Tätigkeit als Teil in einer langen Kette von Schritten ermessen könne, die aus einem rohen Metallbarren am Ende eine fertige Uhr mache.



Ein Stockwerk tiefer befindet sich die grosse Produktionshalle, eine endlos lange Reihe von Messingbearbeitungsstationen, gefolgt von alten Stangendrehmaschinen in Aktion, derweil unter militärisch grünen Decken die Werkzeuge warten, die man erst bei der nächsten Charge brauchen wird. Eine filmreife Steampunk-Kulisse, in der sich die Arbeiter zwischen altertümlicher Mechanik im Öldunst verlieren, ein chaotisches Theater von Leibern und Mechanik. Der Direktor wartet etwas abseits und zeigt auf ein noch ölglänzendes Bauteil: ein winziges Zahnritzel.

Plötzlich herrscht Stillstand

Und dann – plötzlich – herrscht Stillstand im grossen Saal. Jemand hat Geburtstag. Vorne hat sich der Werkschor aufgereiht, die Hymne von Raketa ertönt sowie alte Partisanenlieder. Die Veteranen sehen sich ergriffen in ihre Jugend zurückversetzt, die jungen Leute hören artig zu und nutzen die Pause, um auf ihren Smartphones herumzuspielen.

Es wird einige Stunden dauern, bis die Werkstatt wieder in Betrieb genommen werden kann. Erkaltete Maschinen müssen wieder warmlaufen, damit sie die Fertigungs-Toleranzgrenzen liefern können, die für das Schneiden der Räder vorgeschrieben sind, für das Drehen der Ritzel, das Produzieren der Zapfen, Triebe und Schrauben. Dann werden alle wieder an der Arbeit sein. Dann sind die Meissel geschärft, die Nocken der Maschinen nehmen ihre Melodie wieder auf, die Pressen finden ihren Rhythmus, die Härterei-Station ist wieder aktiv und nimmt eine Charge von Spiralfedern in Angriff. Und der Riemen für eine Drehbank wird repariert, auf dass er für die Bearbeitung der Hemmungsräder erneut parat sei.

Raketa lebt so ihre zweite Wiedergeburt, ohne etwas von ihrer Vergangenheit vergessen zu haben, weder das Know-how noch ihre menschlichen Werte.

2011 hat David Henderson-Stewart Raketa übernommen. Sein Vater war Brite, die Mutter Französin, sein Herz schlägt für Russland. Und er führt die Marke selber, nachdem sein erster Partner vom russischen Territorium ausgewiesen worden ist. Er war Wirtschaftsanwalt, als er Raketa kennenlernte, sein zunächst interessierter Klient wollte das Unternehmen kaufen, dann aber doch nicht. Henderson-Stewart geriet in dessen Bann und übernahm alles: das Gebäude, die Uhren, die Maschinen. Und die Menschen, die dieser Manufaktur ihre Seele geben.

Er investierte alles, was er konnte, ohne sich über mehrere Jahre ein Gehalt auszuzahlen. Stück für Stück wurden der Ruf der Marke, der Vertrieb und das Produktionswerkzeug wieder flottgemacht, alles ächzte noch unter dem wilden Abbau der Post-Gorbatschow-Jahre. Maschinen wurden aus zweiter Hand aus La Chaux-de-Fonds zugekauft, einige trugen ironischerweise noch das Typenschild des ursprünglichen Besitzers: Raketa. Sie waren von Mitarbeitern in den Jahren nach dem Ende des Kommunismus verscherbelt worden, weil die Löhne versiegt waren.

Es gibt keine Computer im Haus

Bei Raketa, der Markenname ist tatsächlich eine Hommage an Juri Gagarins Erdumrundung 1961, treffen heute mehrere Welten aufeinander: Viele der Werkzeuge stammen aus der Sowjetzeit, Stangendrehmaschinen wiederum kommen von Tornos aus der Schweiz. Ein Swatch-Aufkleber aus den 1980er Jahren datiert die Werkbank eines Mechanikers.

Der Wiederaufbau wurde gelegentlich von Schweizer Experten unterstützt. Der erste eingeladene Uhrmacher setzte zunächst bei den Arbeitsbedingungen an: Fenster waren damals zum Teil zerschlagen, manchmal trugen Arbeiter mit Handschuhen, weil es kalt war. Andere Interventionen waren weniger durchdacht: Zwei computergesteuerte CNC-Maschinen von Willemin-Macodel wurden importiert, konnten aber nie eingesetzt werden. Bei Raketa ist die digitale Technologie auf persönliche Smartphones beschränkt, es gibt keine Computer im Haus. Mit Ausnahme einer eben neu geschaffenen Stelle in der Entwicklungsabteilung, wo ein Konstrukteur die Computerisierung der technischen Zeichnungen in Angriff nimmt.

Die Tour geht weiter. Härtungsraum für den Stahl und die Thermofixierung der Spiralen. Korridore kreuz und quer, lärmende Maschinen überall. Überall wird Gerätschaft revidiert, überarbeitet, repariert, montiert. In einem kleinen Büro hält ein Mann zwei feine Elinvar-Drähte hoch, künftige Spiralen, die aus einem abenteuerlichen, undatierbaren Walzwerk stammen. Gegenüber steht die Drahtziehmaschine mit ihren Walzen, 80 Kilogramm Elinvar-Legierung sind noch vorrätig, eingeschmolzen wohl zur Zeit von Nikita Chruschtschow, vielleicht sogar von Joseph Stalin. Und am Besuchstag arbeitet der Spezialist dafür nicht für die Uhren-, sondern für die Rüstungsindustrie. Auf die Frage nach der Zuverlässigkeit seiner Ausrüstung und der Einhaltung von Massen packt er das Ende der zukünftigen Unruhfeder mit einer Zange, kramt ein analoges Messinstrument hervor, misst und kommt zu einem klaren Schluss: Perfekt.

Der nächste Raum beginnt mit der Sortierbank, an der die Spiralen in 20 Klassen unterteilt werden. André Serguei Viktorovich, der Jüngste in der Werkstatt, nimmt die Unruhen in die Hand, eine nach der anderen, eliminiert ein allfälliges Unrund mit dem Taststift und widmet sich, Schritt für Schritt, jeder Funktionsebene des Ankerrads. Eine Frau stanzt die Anker, zwischen zwei Schränken wird etwas weiter die Ebenheit der Unruhfeder überprüft und deren Kurve von Hand korrigiert. Im nächsten Raum, der so eng ist, dass man rätselt, wie die Maschinen haben hineingebracht werden können, weist ein Mann, eigentlich mehrfach pensioniert, seinen Schüler in Geheimnisse der Präzisionsarbeit ein – alle Teams arbeiten auf diese Weise, um ihr Know-how weiterzugeben.

Die Marke Raketa erlebt ihre zweite Wiedergeburt. Die Fabrik wurde vor mehr als einem Vierteljahrhundert von Anatoli Tcherdantsev vor dem Untergang gerettet. Er war Metallurgie-Ingenieur, und sein damaliger Arbeitgeber hatte ihn zu Raketa geschickt, um die Immobilien der Marke zu verkaufen. Man hatte sie übernommen, weil der Klient ein Mandat zur Verarbeitung von Edelmetallen aus Atom-U-Booten nicht bezahlen konnte. Wie Charles Vermot, der die Werkzeuge und Pläne des El-Primero-Werkes von Zenith vor der Verschrottung retten konnte, rettete Anatoli Tcherdantsev Raketa, indem er alle noch verbliebenen Teile der Uhrmacherei in einem Gebäude sicherstellte. So konnte das älteste in Russland registrierte Unternehmen seine Tätigkeit ohne Unterbrechung bis heute fortsetzen, und Tcherdantsev blieb an der Spitze der Manufaktur.

Im Vergleich zum Rest der Fabrik wirkt die Montagewerkstatt – weitgehend dem üblichen Modell im Schweizer Jura nachempfunden – weniger exotisch, mit Ausnahme einiger Details: Ein tieferes Durchschnittsalter fällt auf und eine starke weibliche Präsenz. Hier arbeitet Xavier Giraudet, ein gebürtiger Franzose und der einzige gelernte Uhrmacher im Haus. Er ist der Mann für alle Fälle, hat ein Auge auf die Qualität und eines auf die Entwicklung der Struktur, der Logistik und des Kundendienstes.

Es gibt weitere Schätze. Da ist das Materiallager, in dem die Spulen mit dem kostbaren Elinvar und ein Berg von Stanzwerkzeug gehütet werden. Da sind die Konstruktionsabteilung und ihr Archiv mit Tausenden von technischen Plänen, die ebenfalls vor dem Untergang gerettet wurden. Und da ist der Sitz der Dekanin von Raketa, der Ingenieurin Ludmila Yakovlena, 80 Jahre alt. Sie hat immer hier gearbeitet und war an allen technischen Entwicklungen seit mehr als 50 Jahren beteiligt, insbesondere an der Entwicklung des automatischen Kalibers, das heute als Grundlage dient, des 2609. Auf die Frage, was an diesem Kaliber verbessert werden könnte, antwortet sie: «Nichts, es ist perfekt. Aber die Herstellungsprozesse können verbessert werden.»

Hinter dem exotischen Charakter der Installationen, dies zum Schluss, verbirgt sich das wahre Genie des Ortes: die Fähigkeit, selbst mit einfachsten Mitteln die hohen Qualitätsstandards der Schweizer Uhrmacherei zu erfüllen. David Henderson-Stewart wollte das beweisen, jetzt müsse es nur noch die Welt erfahren. Fortsetzung folgt. |


 

Aus Watch Around N° 46
März/April 2020

 
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