DESIGN | OLIVIER GAMIETTE

Das grosse Comeback der Konzeptuhr


Tagsüber designt er Autos für die Industrie, nachts entwirft er futuristische Uhren für sich selber. Gamiette ist ein Getriebener – und er sucht jemanden, der seine Uhren auch bauen würde.

Etienne Marchand

Dies ist die Geschichte eines Maschinenbauers, der autodidaktisch zum Designer wurde – leidenschaftlich, begabt, beinahe manisch. Er ist Mitte vierzig, Familienvater und lebt in Paris. Tagsüber entwirft er Autos für den PSA-Konzern, nachts zeichnet er Uhren. Vor vier Jahren veröffentlichte er auf eigene Rechnung ein Büchlein mit 30 Konzeptuhren. Es war für den hyperaktiven Mann eine Art Ventil für den kreativen Überdruck. 

Dessen Leidenschaft für die Uhrmacherei ist übrigens jungen Datums. Alles begann 2012. Er arbeitete am Design des Conzept Cars Peugeot Onyx und musste eine Uhr entwerfen, die das Auto begleiten könnte: «Geometrie, Mathematik, Materialien – ich begriff, wie nah sich die beiden Welten mitunter sind. Ich wusste damals noch nichts über Uhren, ich entdeckte ein neues Universum.» Und das Universum nahm Formen an: Gehäuse, Zeiger etc. 2014 veröffentlichte er sein Büchlein «Soon, Timepiece Phenomena».

Mit dem Buch verfolgte er mehrere Ziele. Zunächst sollte es ein Freiraum für Entwürfe sein, frei von technischen und kommerziellen Zwängen des Endprodukts. «Traditionelle uhrmacherische Codes werden immer wieder in Frage gestellt», sagt Gamiette, «das thematische Spektrum ist sehr breit, mal futuristisch, mal klassisch, mal ausgefallen.» So zeigt es der Designer auch in seinen ausgefeilten Illustrationen. Dazu hatte das Buch einen didaktischen Zweck: «Ich wollte die Etappen einer Kreation aufzeigen, zeigen, wie ich vorgehe, meine Erfahrungen teilen.» Es gab deshalb sogar ein Tutorial zum Thema Farben.


» Die eigentliche Motivation ist nicht das fertige Produkt. Es ist vielmehr die Reise, die Entwicklung, die Zusammenarbeit mit einem Team. Es ist das Leiden, die technischen, budgetären und terminlichen Herausforderungen zu meistern, bis hin zur Realisierung eines ehrlichen und charismatischen Produktes.
Olivier Gamiette, Designer


Olivier Gamiette nahm sein Buch unter den Arm, ging zur Baselworld, traf die Uhrenwelt – und das Buch elektrisierte: «Viele Leute sagten mir, Innovationen in der Uhrenwelt seien schwierig. Aber nachdem sie meine Arbeit gesehen hatten, änderten sie ihre Meinung.» Und auch er selber sah sich bestärkt: «Ich realisierte, dass es noch viele Möglichkeiten zu erkunden gibt.» 

Gamiettes Begeisterung war zwar gewachsen, aber ein echter Zugang zur Branche ergab sich noch nicht. Eine Frage indes wurde ihm oft gestellt: Ob denn seine Designs auch geschützt seien? «Ich habe begriffen, dass es die grossen Marken gibt und kleine unabhängige», sagt er. «Und ich habe verstanden, dass grosse Unternehmen ihre Markenidentität pflegen und sich nicht für neue Designs interessieren. Kleine unabhängige Marken hingegen suchen zwar das Neue, doch sie werden meistens von Kreativen geleitet, die sich selber verwirklichen wollen.»

ENTFACHTE LEIDENSCHAFT

Dennoch: Die Leidenschaft war entfacht, auch wenn Gamiette realisierte, dass es nicht einfach würde, sich in der Branche einen Namen zu machen. Am Rande seines Brotjobs für die Automobilindustrie pflegte er seine Liebe für die Zeitmesser weiter. Heute hat er über 200 Konzepte beisammen, die er vorerst für sich behält. Denn, so meint er vielsagend: «Meine Erfahrungen mit der Branche waren ein wenig überraschend.»

Doch es blieb der Wunsch, dereinst real in den gesamten Prozess eingebunden zu sein: «Die eigentliche Motivation ist nicht das fertige Produkt. Es ist vielmehr die Reise, die Entwicklung, die Zusammenarbeit mit einem Team. Es ist das Leiden, die technischen, budgetären und terminlichen Herausforderungen zu meistern, bis hin zur Realisierung eines ehrlichen und charismatischen Produktes.» Und Gamiette weiss, wovon er spricht: Seit zwanzig Jahren kennt er den Prozess in der Automobilindustrie. 

Seine Uhrenkreationen, so spektakulär sie auch sein mögen, seien alle realisierbar, beteuert er. Er zeichnet im Massstab 1:1 und notiert vom ersten Entwurf an mit einem Farbstift technische Daten zur Mechanik, zur Grösse eines Uhrwerks, zur Art und Weise der Einbettung einer Funktion, zur Lesbarkeit und zur Ergonomie. «Ich arbeite gerne an kühnen, aber immer auch an verständlichen Themen. Auch wenn mir die Idee gefällt, mit meinen Entwürfen zu verzaubern, versuche ich vor allem, den Konzepten, die ich entwickle, einen Sinn zu geben, als ob das Projekt zur Produktion bestimmt wäre, es ist nicht nur Literatur.»

Die schöpferische Kraft wirkt kolossal, wie ein mächtiger V8-Motor, ganz der Kreativität verpflichtet. Und in einer Zeit, in der die Uhrenindustrie nach überraschenden neuen Wegen sucht, müsste das nicht unbemerkt bleiben.

«Mäzene vor!», ist man versucht zu rufen. |


Das Buch: Soon, Timepiece Phenomena, Olivier Gamiette, Ed. Designstudio, Oktober 2015, 127 Seiten. 


 

Aus Watch Around N° 34
Dezember 2018

 
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INHALTSVERZEICHNIS:
Vintage | Konkurs Eterna? | A-Post an Nick Hayek | Der Glasboden | DuBois & fils | Nomos | Interview Vartan Sirmakes | Breguet: Bonapartes Reiseuhr | Amrain | Roventa-Henex | Sammler-Guru Sandro Fratini | Olivier Gamiette | Die französische Uhrenindustrie | Porträt Paul Gerber