AGENHOR | NEUES CHRONOKALIBER

Geniale Konstruktion:
Ein Hohlraum im Herzen des Werks macht Platz für allerlei Funktionen 


Grosser Schritt für das Familienunternehmen: Es lanciert sein eigenes Chronographenwerk. Und will es im industriellen Massstab bauen.

Christian Kaufmann

Die Einführung eines neuen Chrono­graphenkalibers ist immer ein Meilenstein. Und historisch gesehen standen neue Chronokaliber stets auch für einen grossen Wandel in der Branche. Vor genau 50 Jahren zum Beispiel wurden zwei Werke geboren, die beide bald zum Mythos avancierten: das Kaliber 11 und das El Primero. Mitte der 1970er Jahre erschienen zwei weitere legendäre Werke: das Valjoux 7750 und das Lemania 5100.

Das kleine Genfer Familienunternehmen Agenhor stellt sich nun der Herausforderung und vermarktet sein AgenGraphe, das erste modulare und springende Chronographenkaliber mit zentraler Anzeige der gestoppten Sekunden, Minuten und Stunden. Ein neuer Mechanismus, der ganz auf Lesbarkeit ausgerichtet ist.

Ehrgeiz und Engagement

Das AgenGraphe ist an sich keine Neuheit – das Kaliber erschien vor einiger Zeit. Es wurde zunächst im kleinen Kreis verwendet, erlangte dann mehr Sichtbarkeit, nachdem die Uhr Singer Reimagined am Grand Prix d’Horlogerie de Genève prämiert worden war. Singer ist die zweite Marke, die dieses Werk integrierte – die erste war Fabergé. Zwei neue Marken haben sich seither dem Team angeschlossen. Ihre Kreationen werden in den kommenden Monaten präsentiert.

Doch vier Marken als Kunden reichen nicht aus, denn hinter dem AgenGraphe stecken der ganze Ehrgeiz und das enorme Engagement der Familie Wiederrecht: von Vater Jean-Marc, Ehefrau Catherine und den beiden Söhnen Laurent und Nicolas, die nun an der Spitze des 22-köpfigen Unternehmens stehen (siehe WATCH AROUND Nr. 26). 

Das AgenGraphe soll ein Mittel für Agenhor sein, sich für die Zukunft zu rüsten. Agenhor, so muss man wissen, hat sich bisher vollständig auf externe Mandate gestützt und eine riesige Sammlung exklusiver Module für fast alle grossen Namen der Branche entwickelt. Jetzt geht es um nichts weniger als um den Bau einer neuen Säule für das Unternehmen – man will auch Produzent von Standardkalibern werden.

Ausbrechen aus dem High End

Es wäre ein ganz neuer Geschäftszweig, dem sich die Brüder Wiederrecht das ganze letzte Jahr über widmeten. 2019 steht nun für den Beginn einer grösseren Produktion mit dem Ziel, die Fertigung zu industrialisieren und die Kosten entsprechend zu senken. Und vor allem: um nicht für unbestimmte Zeit auf den High-End-Bereich begrenzt zu bleiben.

Zunächst soll uns das AgenGraphe an seine ureigene Substanz erinnern – in ihm steckt sozusagen das Leben mehrerer Uhrmacher. Die Entstehung reicht in die Zeit zurück, in der Vater Jean-Marc Wiederrecht die Uhrmacherschule besuchte. Als Novize rieb er sich mental an den Schwächen der bestehenden Chronographenwerke, an ihren eklatanten energetischen Verlusten und ihrer mangelnden Sichtbarkeit. Das Thema liess ihm fortan keine Ruhe mehr.

Vor zehn Jahren begann er, seine Werk­architektur auf einer völlig neuen Grundlage zu entwerfen: ein komplettes Kaliber, das all sein Know-how, insbesondere sein grosses Wissen über das Modulare, berücksichtigt. Er wollte alle Funktionen nebeneinander integrieren und nicht mehr, wie zuvor üblich, durch das Aufeinanderstapeln von Mechanismen. Und er wollte die Schwächen der bestehenden Chronographen ausgleichen und beseitigen. Das AgenGraphe, man versteht es, wurde nicht an einem Tag geboren.

Der eigentliche Ausgangspunkt des Chronographen ist ein ringförmiges Uhrwerk, das in seinem Herzen einen Hohlraum hat – Platz für das eigentliche AgenGraphe. Damit tanzt die Mechanik aus der Reihe bisheriger Chronographen, technisch wie ästhetisch. Man ist zum Beispiel nicht auf die weitgehend gleiche Anordnung von Totalisatoren angewiesen, das Werk stellt eine Art offenes Theater dar, in dem allerlei gespielt werden kann. Es liegt an den zukünftigen Anwendern, das Potenzial voll auszuschöpfen.

Gegen 600 Komponenten

Grundprinzip der Konstruktion ist die Suche nach der besten Lesbarkeit. Alle Informationen gehen von der Mitte aus. Uhrzeit und gemessene Zeit werden über Zeiger oder Scheiben angezeigt. Die Konfiguration kann an die Bedürfnisse des Benutzers angepasst werden, man kann sich auf ein Zifferblatt beschränken, man kann auch mehrere haben. Die Anzeige erfolgt aus der Mitte oder von der Peripherie aus – alle Varianten sind denkbar.

Im Zentrum steht das Basismodul AGH 6361, das die wesentliche Mechanik umfasst: zwei Federhäuser mit einer garantierten Gangreserve von 52 Stunden, das Räderwerk und die Hemmung. Es ist in einem Kreisbogen auf der Platte angeordnet, von dem es nur zwei kleine Drittel einnimmt.

Abgerundet wird dieses erste Modul durch das sogenannte AgenPit, eine patentierte Eigenentwicklung, welche die übliche Rückervorrichtung ersetzt und ermöglicht, die Unruh durch Einstellen der tatsächlichen aktiven Länge der Spiralfeder auszubalancieren – dank einer Art Backen-Rändelscheibe, die an ein System zum Ausrichten der Unruh an den Anker gekoppelt ist. Eine clevere, mechanisch hübsche Lösung.

Auf das erste Modul kann zifferblattseitig ein automatischer Aufzug gesetzt werden. Cooler Kniff: Die Schwungmasse ist mit einem glatten Lager ohne Kugellager, dem AgenPal, ausgestattet. Der Automatikmechanismus ist ein unabhängiges Modul, das genial mit der Kraft haushaltet und die Aufzugsfeder mittels Magic-Lever-System aufzieht.

Das dritte Modul ist das AgenGraphe selber. Es befindet sich in der Mitte des Dis­positivs, ist als eine Art Stapel von Rädern, Nocken und Sektoren konzipiert und überträgt alle nötigen Informationen auf die zentrale Anzeige. Das erste Teil, für die Sekundenanzeige, ist direkt mit dem zweiten gekoppelt. Das Rad ist mit einem Nocken verbunden, der von der Welt der springenden Mechanismen inspiriert ist: Dabei wird die Energie für eine Minute gespeichert und am Ende der sechzigsten Sekunde sofort wieder abgegeben.

Eine rotierende Sperrklinke lädt dann den unteren Stern mit 60 Zähnen für die Minuten, die ebenfalls via Nocken und eine rotierende Sperrklinke gekoppelt sind. Letzteres bewegt den Stundenstern. Der Vorteil, so Laurent Wiederrecht: «Es besteht keine Möglichkeit eines Lesefehlers. Wir sind Spezialisten in Sachen springende Mechanik, das war für uns eine logische Lösung.»

Nachteile eliminiert

Dann kommt die Kupplung, die ebenfalls patentierte AgenClutch. Hier galt es, die Mängel der beiden bestehenden Systeme zu überwinden. Es gibt heute entweder die horizontale Kupplung mit zwei Zahnrädern, die eingerastet werden, oder die vertikale Kupplung mit zwei glatte Rädern, die übereinander angeordnet sind. Laurent Wiederrecht: «Die horizontale Variante erfordert eine hohe Genauigkeit der Einstellung und kann zu Darstellungsfehlern führen. Die vertikale Lösung braucht viel Drehmoment.» 

Und die Agenhor-Lösung? Ganz einfach: Man entferne das, was bei energieeffizienteren Lösungen stört – die Zähne. Zwei glatte Räder werden dank einer Nickel-Diamant-Behandlung so miteinander in Kontakt gebracht, dass ein guter Grip zwischen den beiden gewährleistet ist. Der Kontakt erfolgt über eine tulpenförmige Feder. Die Sache wird durch zwei sehr fein verzahnte Sicherheitsräder ergänzt. «Kein Informationsverlust ist möglich, auch keine Häufung von Fehlern», freut sich Wiederrecht.

Das letzte Element ist das Steuermodul für Start und Stopp des Chronographen sowie für den Reset. Start und Stopp werden durch eine Einschalt-Ausschalt-Funktion gewährleistet, die das Säulenrad aktiviert. Eine mit einem hufförmigen Teil ausgestattete Wippe bremst bei Bedarf das glatte Rad. Der Reset ist wiederum eine Einschalt-Ausschalt-Funktion, die das Huf löst und die Hebelfeder für Minuten- und Stundensterne anhebt, was einen sofortigen Reset gewährleistet.

Zehn Jahre lang wurde das Werk entwickelt, ein Jahr lang getestet, jetzt ist der Chronographen-Traktor funktional und bereit. Was daraus wirklich noch alles werden wird, entscheiden von nun an die Wünsche der Kunden. |


 

Aus Watch Around N° 35
Januar/Februar 2019

 
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INHALTSVERZEICHNIS:
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